Mitarbeitergespräche reloaded

Formate für den Dialog von Mitarbeitenden und Führungskräften

Die Gestaltung von verlässlichen Arbeitsbeziehungen ist für den Führungserfolg sehr bedeutsam. Eine gekonnte Gesprächsführung und die adäquate Nutzung verschiedener Gesprächsformate sind ein wichtiges Führungsinstrumentarium, um Einfluss auszuüben und Dinge zu bewegen. Welche Bedeutung Mitarbeitergespräche in der von New Work geprägten Arbeitswelt nach wie vor haben, erläutert dieser Beitrag.

Laut McKinsey ist ein gutes Verhältnis zu den Führungskräften der wichtigste Faktor für die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden, die wiederum der zweitwichtigste Faktor für ihr allgemeines Wohlbefinden ist. Die Regelmäßigkeit von Kommunikation zeigt ebenfalls Wirkung. So bewerten Mitarbeiter*innen ihre Führungskraft entsprechend häufiger als respektvoll, je mehr Kommunikation stattfindet (Decker & Van Quaquebeke, 2016, S. 31).
Laut einer von Gherson & Gratton (2022) zitierten Studie des Beratungsunternehmens O. C. Tanner erhöhen wöchentliche Einzelgespräche mit Führungskräften in unsicheren Zeiten das Engagement der Mitarbeitenden um 54 Prozent sowie die Produktivität um 31 Prozent und verringern Burnout um 15 Prozent sowie Depressionen um 16 Prozent.
Im digitalen Zeitalter nimmt zudem die Bedeutung von Beziehungen und personenorientiertem Führungsverhalten zu (Welpe et al., 2018). Dies umfasst, Mitarbeitenden Interesse, Verständnis und Respekt zu zeigen, um ihr Wohlergehen besorgt zu sein sowie Wertschätzung und Unterstützung auszudrücken. Damit werden deren Selbstbewusstsein und Resilienz gestärkt, schwierige Situationen und Veränderungen meistern zu können. Seit Henry Mintzbergs Studien ist hinlänglich bekannt, dass ein Großteil der Führung im Kontext von vorbereiteter und auch spontaner Kommunikation stattfindet. Gesprächsführungs- und Kommunikationsfähigkeiten gelten daher als eine der wichtigsten Führungskompetenzen (z. B. Nerdinger, 2019).

Gerade weil Kommunikation ständig stattfindet, sehen wir unsere Fähigkeit zu kommunizieren oft als etwas Selbstverständliches an. Unsere Gesprächsgestaltung wird von Gewohnheiten, die unseren Kommunikationsstil ausmachen, oder von unterbewussten Prozessen, die unsere Haltung prägen, dominiert. Mit der Art, wie wir kommunizieren (z. B. von oben herab, mit Unterton, dominant oder oberflächlich) produzieren wir unabsichtlich negative Effekte für die Beziehungsgestaltung. Für tragfähige Beziehungen sind jedoch die Gesprächsqualität und der empfundene Rapport von entscheidender Bedeutung. Das Gefühl einer guten Beziehung entsteht aus der Summe der Erfahrungen in Interaktionssituationen. Aktuelle Interaktionen mit einer Person werden vor dem Hintergrund dieses Erfahrungswissens interpretiert (vgl. Watzlawick et al., 2017).
Weil Führung primär im Dialog zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden stattfindet (Hossiep et al., 2020), sind Gespräche ein wesentliches Instrumentarium, um gemäß der Leader-Member-Exchange Theorie eine positive Beziehung zu etablieren und auf zentrale Faktoren Einfluss zu nehmen, wie z. B. die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, das Commitment zur Aufgabe und zur Organisation sowie die Förderung und Bindung von Talenten, um den eigenen Erfolg als Führungskraft zu erhöhen (z. B. Regnet, 2020;). Jede*r Change Manager*in weiß um die Bedeutung von Mitarbeitergesprächen während Veränderungsvorhaben, um psychologische Sicherheit zu vermitteln.
In Mitarbeitergesprächen erhält eine Vielzahl von Meta-Themen Raum, für die im Alltag zu wenig Gesprächszeit bleibt. Vor dem Hintergrund dieser in Wissenschaft und Praxis etablierten Erkenntnis wundert es, warum das Instrument «Mitarbeitergespräch» als nicht mehr zeitgemäß in Verruf geraten ist. Zumal jede Führungskraft die Gesprächsqualität direkt beeinflussen und Gesprächsinhalte sowie Gesprächsführung auf die jeweilige Situation und Person adaptieren kann. Genau genommen richtet sich die Kritik gegen institutionalisierte Mitarbeitergesprächssysteme, häufig Performance Appraisals oder Jahresgespräche genannt, die formalisiert anhand von Gesprächsleitfäden und Kriterienlisten geführt werden müssen (Trost, 2015). Adhoc-Gespräche und anlassbezogene Gespräche (Winkler & Hofbauer, 2010) sowie regelmäßige Check-ins oder One-on-Ones werden hingegen nach wie vor als wichtiges Abstimmungs- und Strukturierungstool erachtet. Im Instrumentenkasten agiler Methoden finden sich ebenfalls zahlreiche Kommunikationsformate, die auf Dialog und gegenseitiges Feedback setzen. Wo ist dann eigentlich das Problem? Um Mitarbeitergesprächssysteme und die Kritik daran besser zu verstehen, sollten wir einen Blick auf deren Historie werfen.

Entstehungsgeschichte eines strukturierten Gesprächsinstrumentariums

Um Führungskräften ihre Aufgaben und die damit verbundenen Gesprächssituationen zu erleichtern, wurden vielerorts Mitarbeitergesprächssysteme eingeführt, die strukturiert, nach einheitlichen Standards und vorgegebenem Themenfokus durchgeführte Gespräche sicherstellen sollten. Zudem ordnete das 1972 in Kraft getretene Betriebsverfassungsgesetz die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer maßgeblich neu. Es sieht vor, dass Mitarbeitende Anrecht auf eine Rückmeldung über Leistungen und Verhalten haben. Auch international avancierte das jährliche Mitarbeitergespräch zu den meist verbreiteten Führungsinstrumenten (Trost, 2022). In Ermangelung anderer Instrumentarien, um wesentliche Führungsprozesse abzubilden, wurden institutionalisierte Mitarbeitergespräche vielerorts als Allzweckwaffe konzipiert. Durch Dokumentation der Gesprächsinhalte in einem Formular und Ablage in der Personalakte dienen sie oft als Grundlage zur Zeugniserstellung oder Nachweis der Leistungsbeurteilung, und werden u.U. in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen herangezogen. Mit verursacht durch die Forderung von Führungskräften und Arbeitnehmervertretung, auch für Ausnahmefälle einen klaren Prozess vorzugeben, entstanden komplexe Systeme mit formalistischem Dokumentationsaufwand.
Da Führung im Gegensatz zu vielen besser definierten Prozessen in Organisationen nach persönlichem Ermessen und abhängig von den Kompetenzen der Führungskraft stattfindet, erhoffte man sich durch einen strukturierten Gesprächsprozess eine gewisse Routinisierung und Qualitätssicherung der Führungsarbeit. Um möglichst viele führungsrelevante Aspekte abzudecken – schließlich kann man damit Führungskräfte dazu verpflichten, zumindest einmal im Jahr über diese Themen mit ihren Mitarbeitenden zu sprechen – sollte das institutionalisierte Mitarbeitergespräch alle möglichen Themen umfassen: Aufgabenprofile, Zielvereinbarungen, Entwicklungsplanung, Job-Zufriedenheit, Leistungsfeedback, Zusammenarbeit, Beurteilungen, Gehalts- und Bonusfestlegungen sowie die Nominierung für Beförderungen oder Förderprogramme. Dass ein Gespräch mit so vielen unterschiedlichen Komponenten und Anforderungen die Teilnehmenden überfordern kann, liegt auf der Hand. Durch den formalen Charakter gehen der im Alltag etablierte Beziehungsrapport und die Natürlichkeit des Gesprächs zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten häufig verloren. Des Weiteren ist es für Mitarbeitende und Führungskräfte nicht leicht, in einem Gespräch je nach Thema zwischen verschiedenen Rollen hin- und herzuwechseln: Bei feedback- und entwicklungsorientierten Gesprächsaspekten ist für Führungskräfte eine coachende und beratende Grundhaltung die zielführendste, weil so eine möglichst große Akzeptanz und Offenheit des Gegenübers erwartet werden kann. Durch Leistungsbeurteilungen oder Entscheidungen über Gehalt und Bonusfestlegungen, die Aufnahme in Förderprogramme oder Beförderungen erhalten sie eine beurteilende Rolle. Auch Mitarbeitende müssen zwischen Gesprächsstrategien wechseln, z. B. vom selbstreflexiven Modus bei Feedback hin zu Selbstmarketing und Verhandlungstechniken, wenn es um monetäre oder aufstiegsorientierte Entscheidungen geht.
Mit der zunehmenden Enthierarchisierung von Organisationen ist in vielen Führungsleitbildern inzwischen eine Präferenz für einen teamorientiertern kollegialen und coachenden Führungsstil zu finden. Damit kollidiert die Rolle des Beurteilers und Vorgesetzten oft mit dem propagierten und von vielen Mitarbeitenden bevorzugten kollegialen Führungsstil. Daraus resultiert eine kognitive Dissonanz, die sich bei Führungskräften häufig in einem mehr oder weniger bewussten emotionalen Widerstand gegenüber Mitarbeitergesprächen mit Beurteilungscharakter äußert. Die Gespräche werden als lästige Pflicht durchgeführt und die Gesprächsqualität sinkt. Oft wäre es beziehungsschonender, kein Gespräch zu führen, als genervt in ein Gespräch zu gehen, das man nicht führen möchte.
Trost (2015, 2022) kritisiert richtigerweise, dass das jährliche Mitarbeitergespräch zu vielen Nutzenerwartungen zu entsprechen versucht und durch sein Format die Vielfalt von Führungssituationen ignoriert. Die zu besprechenden Themen decken zwar den Kern wesentlicher Führungsaufgaben ab, nach Trost ist es jedoch kontraproduktiv, diese alle in einem One-Size-fits-all-Gespräch abdecken zu wollen. Bei stabilen Umfeldern mit vorwiegend hierarchischem Führungsmodell ist es leichter, standardisierte Vorgehensweisen aufrechtzuerhalten. In veränderungsintensiven Kontexten, in denen agil, vorwiegend vernetzt und horizontal «auf Augenhöhe» zusammengearbeitet wird, sind flexibel einsetzbare «on demand-Lösungen» zu präferieren.

Alternative Ansätze

Wie könnte jedoch eine Lösung aussehen? Selbst wenn Mitarbeitende zunehmend gefordert sind, sich selbst und ihre Aufgaben zu strukturieren, auftretende Probleme selbständig zu lösen und Ziele selbstmotiviert zu verfolgen, ist es auch in diesem Kontext notwendig, sich in der Organisation mit Entscheidungsträgern und im Team abzustimmen. Wir benötigen regelmäßige Rückmeldungen im Zusammenarbeits- und Führungsalltag, um koordiniertes, abgestimmtes und eigenständiges Handeln zu ermöglichen. Es bedarf also Gesprächsformate, in denen Rahmenbedingungen und Verantwortlichkeiten geklärt werden, um Rückendeckung und psychologische Sicherheit zu bieten, die eigenständiges Arbeiten benötigt (Edmondson, 2020).
Jüngere Generationen treten zudem mit dem Anspruch ins Berufsleben ein, non-hierarchisch, «auf Augenhöhe» zu interagieren, häufige (vor allem bestärkende) Rückmeldung zu erhalten und gefördert zu werden (vgl. Hurrelmann & Winkler, 2021). Mitarbeitergespräche erleben damit in gewisser Weise eine Renaissance und werden derzeit vielerorts neu erfunden – häufig mit attraktiveren Namen und in modern anmutender digitaler Verpackung. Nüchtern betrachtet, hält sich der Innovationsgrad der Neuentwicklungen alternativer Gesprächsformate in Grenzen. Die adressierten Themen sind den bisherigen sehr ähnlich, da nach wie vor relevant.

Flexible Dialogformate in der New Work-Arbeitswelt

Ein alternativer Ansatz zur Praxis jährlicher Mitarbeitergespräche ist das Baukastenprinzip (Trost, 2022). Dabei wird Führungskräften je nach Nutzenerwartung und Kontext ein flexibles Set an Instrumenten angeboten. Der flexible Einsatz von Instrumentarien erfordert jedoch von Führungskräften, dass sie a) unterschiedliche Gesprächsthemen und -formate kennen und anwenden können und b) sie sich im Jahresverlauf feste Zeiten für diese Gespräche einplanen. Die pure Aufforderung, kontinuierlich im Gespräch mit Mitarbeitenden zu bleiben, verpufft im Tagesgeschäft erfahrungsgemäß. Geführt werden vorwiegend unvorbereitete Adhoc-Gespräche, die prioritär Alltagsthemen umfassen und oft nicht die nötige Gesprächsqualität aufweisen.
Es lohnt sich daher für Führungskräfte, bei Fehlen eines organisational definierten Gesprächsrhythmus eine Gesprächsroutine zu etablieren und bestimmte Metagespräche einzuplanen, wie zu Kompetenz- und Perspektivenentwicklung oder Zielerreichung und längerfristig ausgerichteter Maßnahmenplanung. Eine geeignete Einleitung und damit Kontextuierung durch die Führungskraft («Heute ist es mir ein Anliegen, über… xy mit dir zu sprechen, mit dem Ziel unsere gegenseitigen Vorstellungen abzugleichen und Ideen zu Aktivitäten zu entwickeln, wie wir …») gibt Gesprächen eine Zielrichtung und Bedeutung. Damit ein beidseitiger Dialog entstehen kann, muss echtes Interesse am Gegenüber gezeigt werden, durch Nachfragen, Spiegeln und gemeinsamem Co-Kreieren von Lösungen. Damit werden sie von Mitarbeitenden als nutzbringend erkannt und können die intendierte Wirkung entfalten.

Förderung von Leistung und Zusammenarbeit

Für das von Trost (2022) vorgeschlagene flexible Baukastenset für Mitarbeitergespräche sollten Führungskräfte für folgende Gesprächsinhalte auf vorbereitete Dialog-Formate samt Qualifizierungsmöglichkeiten zugreifen können:
Standards vereinbaren: Um einen Zusammenarbeits-, Service-, Qualitäts-, oder Leistungsstandard im Team zu installieren, sind explizit ausgesprochene Erwartungen zentral. Führungskräfte erarbeiten mit ihren Teams, was die Erwartungen an einen «guten Job» sind, damit diese als mentales Modell verinnerlicht und umgesetzt werden können. Abweichungen können dann kollektiv oder bilateral besprochen werden.
Meta-Gespräch zur Gestaltung der Zusammenarbeit – «Gebrauchsanweisung»: Missverständnisse in der Zusammenarbeit entstehen, weil Präferenzen, Wünsche und Sensibilitäten der Gesprächspartner*innen unklar sind. Ein Gespräch zu diesen Themen mit pragmatischen Vorschlägen wie Unklarheiten Ärgernisse vermieden werden, hilft, Beziehungen auf gute Beine zu stellen.
Ziele und Ergebniserwartungen verabreden: Mit Zielen bündeln wir unsere Kräfte und richten unser Handeln auf bestimmte zu erreichende Ergebnisse aus. Die Zielsetzungstheorie gehört zu den bestbeforschtesten Motivationstheorien. Eine darauf basierende Weiterentwicklung von «smarten» Zielen ist der OKR-Ansatz. Mit im Team verabredeten OKRs erreichen Führungskräfte, dass alle hinsichtlich des Oberziels an einem Strang ziehen, auch wenn die Maßnahmen zur Erreichung der Key Results auf einzelne Personen im Team verteilt werden. Die Meilensteine für die Erreichung und das Monitoring der Key Results können im Laufe des Jahres fest terminiert werden. Das regelmäßige Gespräch, je nach Bedarf im One-on-One oder mit dem Team, über Zwischenergebnisse stellt sicher, dass genügend Fortschritte gemacht werden, um gesteckte Ziele rechtzeitig zu erreichen. Im Gegensatz zu rein individuellen Zielen fördern Teamziele stärker den Austausch und die Zusammenarbeit untereinander.
Leistungsfeedback geben: Der High Performance Cycle der Zielsetzungstheorie von Locke & Latham (2002) unterstreicht die Wichtigkeit von Leistungsfeedback und dessen motivierenden Effekt auf die Übernahme herausfordernder Aufgaben. Bleiben Leistungen unbemerkt, sprich: unerwähnt, so stellt sich das Gefühl ein «… interessiert eh keinen…». Das hat unweigerlich zur Folge, dass Mitarbeitende ihren Einsatz zukünftig stärker dosieren werden. Die einfachste Form der Anerkennung von Leistung ist eine Danksagung. Ebenfalls wirksam ist die Anerkennung von Geleistetem in regelmäßigen One-on-Ones oder in Gruppenbesprechungen (z. B. Stand-up Meetings, Jour-fixes, Projektmeetings oder Retrospektiven), wenn die erzielten Resultate auch für andere Teammitglieder bedeutsam sind.
Feedforward als Alternative zu Feedback: Nach Kluger und DeNisi und ihrer Metaanalyse zu Feedbackprozessen (1996) erhöht Feedback mit klarem Bezug zur Aufgabe und mit konkreten Tipps zur Verbesserung die Motivation, Verhalten zu verändern. Mit der Feedforward-Methode entwickeln Mitarbeitende und Führungskraft Ideen, wie Aufgaben und Situationen effektiver oder müheloser gelöst werden können, der Gesprächsverlauf wechselt von einer bewertenden in eine coachende Richtung. Das Gespräch wird auf Entwicklung und Wachstum gerichtet, die Wahrscheinlichkeit, als Kränkung interpretiert zu werden, sinkt, die Veränderungsmotivation wird stimuliert.
Schwache Leistungen sofort besprechen: Wenn Führungskräfte eine geringe Arbeitsmoral und schlechte Leistung Einzelner laufen lassen, frustriert das alle im Team. Daher sollten Leistungsabfälle oder Kompetenzdefizite in einem anlassbezogenen Mitarbeitergespräch sofort besprochen werden.
Bedarfe der Mitarbeitenden erfragen und Unterstützungsmöglichkeiten eruieren: Ob regelmäßiger Check-In, viertel- oder halbjähriger Spaziergang oder Mittagessen: Ein Austausch hierzu kann auf vielerlei Arten erfolgen. Entweder geht der Gesprächsimpuls von Mitarbeitenden aus, die hinsichtlich Arbeitszeit, -ort, Aufgabenspektrum, Entwicklungsmöglichkeiten oder anderen Rahmenbedingungen für effektives Arbeiten Veränderungsbedarf sehen. Oder die Führungskraft entwickelt einen Gesprächsrhythmus, um bei jedem Teammitglied immer wieder «das Ohr an die Schiene zu legen».
Retrospektiven der Zusammenarbeit: Feedbackprozesse sind nur sinnvoll, wenn zahlreiche Erfahrungen in der Zusammenarbeit vorliegen. Ansonsten entstehen Schnappschüsse, die sich in der Regel auf Positives beschränken. Verbesserungstipps oder Empfehlungen bedürfen konkreter Beispiele und einer belastbaren Einschätzungsgrundlage. 360 Grad-Feedback produziert durch die rein zahlenbasierten Erhebungen oft nicht den gleichen Mehrwert wie ein feedbackorientiertes Gespräch zwischen Partnern (Winkler, 2019). Trost (2022) schlägt sogenannte Feedbackpartnerschaften vor. In diesen unterhalten sich Personen, die eng zusammenarbeiten, in regelmäßigen Abständen zu folgenden Fragen: Was läuft gut und sollten wir beibehalten? Was sollten wir in Zukunft besser machen? Die Führungskraft muss hier nicht involviert sein. Sie wird dann wichtig, wenn die Retrospektiven Störungen aufdecken, die die Gesprächspartner*innen nicht alleine lösen können. Natürlich kann auch die Führungskraft regelmäßige bilaterale Retrospektiven der Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeitenden einplanen.
Kompetenzentwicklung und berufliche Perspektive: In regelmäßigen Abständen sollte ein Abgleich der Anforderungen und der Kompetenzen sowohl für den derzeitigen als auch einen möglichen künftigen Aufgabenbereich erfolgen. Daraus können Entwicklungsmaßnahmen und Lernbedarfe abgeleitet werden. Die Selbsteinschätzung der Mitarbeitenden und die Einschätzung der Führungskraft sind dabei gleichermaßen relevant.
Zusammenarbeitsscreening: Die Qualität der Zusammenarbeit hat einen hohen Einfluss auf die allgemeine Job-Zufriedenheit. Neben einem Austausch als One-on-One oder im Teamkontext kann ein Soziogramm der Zusammenarbeit aller wichtigen Interaktionspartner*innen die Zusammenarbeitsqualität beleuchten und Verbesserungsmaßnahmen herausarbeiten.

Entlastung von Manager*innen

Führungsaufgaben, die von Führungskräften verlangen, als Beurteilende zu fungieren und bei der Verteilung von Mitteln und Möglichkeiten zwischen Teammitgliedern unterscheiden zu müssen, bergen die Gefahr, dass sie einen negativen Effekt auf die Teamdynamik und auf die individuelle Beziehungsgestaltung haben können. Diese Entscheidungen sind auf organisationaler Ebene leichter zu treffen als durch die individuelle Führungskraft, auch wenn diese aufgrund der Kenntnis ihres Teams relevante Empfehlungen aussprechen kann. Zu diesen Entscheidungen gehören die Identifikation von herausragenden Leistungsträger*innen und deren Honorierung.
Selbst den motiviertesten Protagonisten geht früher oder später der einstige Elan verloren, wenn sie sehen, dass sie im Vergleich zu Kolleg*innen, die nur das Nötigste tun, nicht gewürdigt und honoriert werden. In vielen institutionalisierten Mitarbeitergesprächen haben Führungskräfte die Aufgabe, die Leistungen ihrer Mitarbeitenden möglichst fair zu beurteilen. Als Beurteilender scheuen sie jedoch häufig diese Differenzierung aus Sorge vor der Reaktion des Gegenübers. Beurteilungen bleiben so oft in einem eher engen Spektrum. Wenn ein übergeordnetes Gremium mit größerer Unabhängigkeit High Performer identifiziert und würdigt, kann die direkte Führungskraft zu allen im Team eine gute Beziehung halten. Zugleich bedeutet dies für die ausgezeichnete Person einen höheren Wert, da die Anerkennung in der Organisation über den eigenen Bereich hinaus erfolgt.

 

Sinnvolle Gestaltung von Meta-Gesprächen

Anhand der skizzierten Gesprächssituationen müsste deutlich geworden sein, dass eine Führungskraft nicht umhinkommt, bestimmte Meta-Gespräche zu führen, um ihrer Führungsaufgabe gerecht zu werden. Sollen flexibel gestaltete Kommunikationsformate die institutionellen Mitarbeitergespräche ersetzen, ist es ratsam, dass sich Führungskräfte mit dem Spektrum an Gesprächsformaten vertraut machen und festlegen, in welchem Rhythmus Gespräche geführt werden sollen. Wem das zu kompliziert wird, der kann einen Mittelweg gehen. Abbildung 1 skizziert die Struktur eines Mitarbeitergesprächs, das wesentliche Themengebiete abdeckt und durch wenig Vorgaben flexibel z. B. zusätzlich zu den im Alltag stattfindenden One-on-Ones, Gruppengesprächen und Adhoc-Gesprächen als Meta-Gespräch und Boxenstopp geführt werden kann. Natürlich macht – wie immer, wenn es um Kommunikation geht – auch hier der Ton die Musik. Aus einer wohlwollenden, klärenden, reflexiven und coachenden Haltung heraus tragen solche Gespräche zur Klärung wesentlicher Themen und zur Festigung von Arbeitsbeziehungen bei. Eine von oben kommende, beurteilende und bevormundende «top-down» Gesprächsführung provoziert hingegen genau das Gegenteil – und nimmt dem Instrumentarium sein Potenzial für Motivation, Entwicklung und Bindung von Mitarbeitenden. Insofern gilt es in Mitarbeitergesprächen wie generell in der Kommunikation, sich am Zitat der afroamerikanischen Bürgerrechtaktivistin Maya Angelou zu orientierten: «Die Menschen werden vergessen, was Du gesagt hast. Die Menschen werden vergessen, was Du getan hast. Aber die Menschen werden nie vergessen, was sie bei Dir gefühlt haben.»

Prof. Dr. Brigitte Winkler
ZOE-Redakteurin, Geschäftsführende Partnerin von A47 Consulting, Beratung für Unternehmensentwicklung und Managementdiagnostik in München

 

Literatur:

• Gherson, D. & Gratton, L. (2022). Managers can’t do it all. It’s time to reinvent their role for the new world of work. In Harvard Business Review, March-April, 96-105.
• Hossiep, R., Bittner, J. E. & Berndt, W. (2020). Mitarbeitergespräche. Motivierend, wirksam, nachhaltig. 2. Aufl., Hogrefe.
• Trost, A. (2022). Das richtige Führungsverständnis. Wie Sie Ihre Führungsrolle definieren, vermitteln und wirksam umsetzen. SpringerGabler.
• Trost, A. (2015). Unter den Erwartungen. Warum das jährliche Mitarbeitergespräch in modernen Arbeitswelten versagt. Wiley-VCH.
• Winkler, B. (2019). Wie Feedbackverfahren Führungskräfte in ihrem Rollenbewusstsein verunsichern. OrganisationsEntwicklung, 4, 41-47.
• Winkler, B. & Hofbauer, H. (2010). Das Mitarbeitergespräch als Führungsinstrument. Handbuch für Führungskräfte und Personalverantwortliche, 4. Aufl., Hanser.

Eine vollständige Literaturliste kann im Redaktionsbüro unter zoe.redaktion@handelsblattgroup.de angefordert werden.

 

 


Die Nuancen erkennen

Daniel L. Shapiro über die tieferen Schichten in Konflikten und Verhandlungen

Als Gründer und Leiter des Harvard International Negotiation Program ist Daniel L. Shapiro ein weltweit anerkannter Experte für die Psychologie der Konfliktlösung und Autor von «Verhandeln: Die neue Erfolgsmethode aus Harvard». Im Gespräch mit unserem Redakteur Thomas Schumacher reflektiert er über die emotionalen Dynamiken und Identitätsaspekte, die Konflikte sabotieren können, ohne dass es uns bewusst ist, und schildert, wie er uns dabei unterstützt, sie zu erkennen und zu überwinden.

ZOE: Wie beeinflusst all die Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität der heutigen Zeit Ihre Verhandlungsarbeit?

Shapiro: Meine große Neugierde gilt dem menschlichen Geist und der menschlichen Natur. Ich denke, die Welt ist sicherlich kompliziert, und mit der Technologie und der Vernetzung, die wir erleben, ist das Leben in vielerlei Hinsicht noch komplizierter geworden. Dennoch bleibt die menschliche Natur aus meiner Sicht weitgehend gleich. Mein Interesse gilt der Frage, wie wir die menschliche Natur verstehen können, um mit dem umzugehen, was die Umwelt uns auferlegt.

ZOE: Gibt es Trends oder Veränderungen in der Art und Weise, wie Sie Dialoge und Verhandlungen beobachten?

Shapiro: Wir haben sicherlich globale Muster in der Struktur von Konflikten und in der Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, festgestellt. Der Kalte Krieg ist ein Beispiel dafür, wie zwei Weltmächte in einen bipolaren Konfliktansatz verwickelt waren. Es überrascht nicht, dass sich die Verhandlungsforschung zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich auf die Spieltheorie und rationale, interessenbasierte Verhandlungsansätze konzentrierte.

Dann ging der Kalte Krieg zu Ende, und die Welt erlebte eine Zunahme von identitätsbasierten Konflikten, die oft innerstaatlicher und regionaler Natur waren. Dementsprechend veränderte sich auch das Feld der Verhandlungsführung, und das Interesse an der Rolle der sozialen Identität und des Konfliktmanagements nahm zu.

In den frühen 2000er Jahren bemerkte ich dann einen neuen Trend, den ich damals als politischen Tribalismus und politische Polarisierung bezeichnete. Mit dem Aufkommen des Internets und bald darauf der sozialen Medien sowie dem Fall der Trennlinie des Kalten Krieges wurde die Welt sozial, technologisch und wirtschaftlich so vernetzt wie nie zuvor, und dies schuf neue Trennlinien. Ich begann, diesen Trend in verschiedenen internationalen Foren zu diskutieren und darüber zu schreiben – aber so offensichtlich wie sich die politische Polarisierung heutzutage anfühlt, war sie in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts kein großes Thema. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich versuchte, in einer großen Fachzeitschrift zu diesem Thema zu veröffentlichen und mein Artikel prompt abgelehnt wurde.
Heute, etwa 20 Jahre später, sehen wir die politische Polarisierung als einen wichtigen globalen Trend. Das politische Umfeld entwickelt sich mit der Zeit, und wir in der Wissenschaft scheinen sein Schatten zu sein, der ihm folgt, wohin auch immer er geht, und versuchen, die neuen Formen der Komplexität in der Welt zu verstehen.

ZOE: Sie reflektieren über Konflikte und Verhandlungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. Sehen Sie diese Trends auch in Ihrer Arbeit mit Organisationen?

Shapiro: Bis zu einem gewissen Grad denke ich, dass das Wort Polarisierung nur eine neue Art ist, das zu umschreiben, was wir im Bereich der Konfliktlösung schon immer getan haben: nämlich mit Menschen umzugehen, die sehr polarisierte Ansichten zu einem Thema haben. Die Streitparteien halten an ihren Positionen fest, und die Herausforderung besteht darin, ihnen zu helfen, die Nuancen, die Ungewissheit, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, die nicht konkurrierend sind, zu erkennen. In gewisser Weise denke ich, dass wir in diesem Bereich schon immer darüber nachgedacht haben. Wir verpacken es jetzt neu, indem wir es als moderne Formen von Konflikten – Polarisierung – bezeichnen, und es gibt sicherlich Nuancen im Umgang mit Polarisierung, die für dieses Phänomen einzigartig sind. Aber im Allgemeinen glaube ich, dass die Verhandlungstheorie, die über viele Jahre hinweg entwickelt wurde, auch in der heutigen Zeit sehr relevant ist.

ZOE: Sie unterscheiden drei Ebenen in Ihrem Ansatz, wenn Sie mit diesen polarisierten Situationen arbeiten. Können Sie diese kurz erläutern?

Shapiro: Ich unterscheide drei grundlegende Ebenen für Verhandlungen und Konfliktlösungen. Ebene eins ist die Rationalität. Hier geht es darum, dass wir den Konflikt als ein zu lösendes Problem betrachten. Israelis und Palästinenser haben zum Beispiel viele Probleme miteinander. Wie gehen sie mit diesen Problemen um? Der beste rationale Verhandlungsansatz, den ich kenne, ist die interessenbasierte Verhandlungsführung, die von meinen Kollegen des Harvard Negotiation Projects entwickelt wurde und in dem Buch «Getting to Yes» dargestellt ist. Dieser Ansatz rät den Parteien, über ihre Positionen hinauszugehen und die zugrunde liegenden Interessen zu erkunden. Sobald sie die Breite und Tiefe der zugrundeliegenden Interessen verstanden haben, können die Parteien Optionen für beiderseitige Vorteile entwickeln. Ich wende diese Methode regelmäßig in meiner Beratung mit streitenden Parteien auf hoher Ebene an und helfe ihnen dabei, Optionen zu entwickeln, die besser sind als ihre Ausweichmöglichkeiten.

ZOE: Die zweite Ebene betrifft die Emotionen?

Shapiro: Ja, wie geht man mit der komplexen emotionalen Landschaft in Verhandlungen um? Diplomaten aus zwei streitenden Ländern können ein potenzielles Abkommen ausarbeiten, das alle rationalen Fragen anspricht, aber wenn es einen anhaltenden Groll gibt, kommt das Abkommen möglicherweise nicht zustande. Dies ist ein einfacher, aber aussagekräftiger Punkt, der durch empirische Untersuchungen gestützt wird: Selbst eine objektiv großartige Vereinbarung kommt möglicherweise nicht zustande, wenn die Emotionen nicht wirksam angesprochen werden. Im Laufe der Jahre haben wir im Harvard Negotiation Project daran gearbeitet, einen praktischen Rahmen zu schaffen, um die emotionale Dimension von Verhandlungen zu berücksichtigen.

«Es geht um etwas Tieferes als nur um Gefühle, nämlich um Identität.»

ZOE: Es gibt aber noch eine weitere Ebene?

Shapiro: Es gibt eine tiefere Ebene – die Identität. In den frühen 1990er Jahren habe ich in Ost- und Mitteleuropa an der Lösung von Konflikten gearbeitet, unter anderem in Serbien, Kroatien und Mazedonien, als diese Region gerade implodierte. Und ich stellte fest: Es kommen Experten aus der internationalen Gemeinschaft hierher, um sich mit den wirtschaftlichen Problemen zu befassen, um bei den politischen Herausforderungen zu helfen, um bei den militärischen Übergängen zu helfen, die hier stattfinden. Aber wie geht man mit dem menschlichen Übergang um? Mir wurde klar, dass es hier um etwas Tieferes geht als nur um Gefühle, nämlich um Identität. Wie geht man mit Konflikten um, wenn die Identität eine große Rolle spielt?

ZOE: Hier kommt also die Theorie der relationalen Identität ins Spiel?

Shapiro: Die Theorie der relationalen Identität ist eine einfache Idee, die sich aus einem Rätsel ergab, das ich nicht lösen konnte: Wie können Parteien in identitätsbasierten Konflikten jemals zu einer Lösung kommen, ohne dass es zu einem regelrechten Völkermord, einer Auslöschung der einen Seite durch die andere kommt? Wenn man davon ausgeht, dass Identität eine feste Größe ist, gibt es im Extremfall keinen anderen Ausweg. Entweder man akzeptiert sie oder man löst sie auf. Durch meine internationale Arbeit und ein tiefes Eintauchen in die Forschungsliteratur über Identität wurde mir dann klar, dass es viele verschiedene Arten von Identität gibt. Eine Art von Identität bezeichne ich als Kernidentität. Sie bezieht sich auf die Merkmale, die Sie als Person oder Gruppe ausmachen. Das sind Ihre Überzeugungen, Rituale, Werte, emotional bedeutsame Erfahrungen und so weiter. Ihre Kernidentität ist ziemlich fest. Ich kann meine Werte oder Überzeugungen ändern, aber das ist nicht einfach, und es gibt viele Widerstände dagegen.
Mein intellektueller Durchbruch war, als mir klar wurde, dass wir noch eine andere Art von Identität haben, die fließender ist – die Beziehungsidentität. Diese bezieht sich auf die Merkmale, die definieren, wer ich im Verhältnis zu Ihnen bin. Während meine Kernidentität ziemlich fest ist, ist meine Beziehungsidentität viel fließender. Wenn Sie an eine Ehe denken, hat jeder Ehepartner seine eigenen Werte – das ist Teil seiner Kernidentität und lässt sich nur schwer ändern. Aber sie können viel tun, um ihre Beziehungsidentität so zu verändern, dass jeder sich emotional näher und freier fühlt, so zu sein, wie er es in seiner Ehe gerne wäre. Für mich wurde die Idee der Beziehungsidentität extrem spannend, weil ich erkannte: Wenn wir die grundlegenden Bestandteile einer Beziehung herausfinden können, können wir Methoden entwickeln, um die strukturelle Essenz belasteter Beziehungen zu verändern.

ZOE: Das ist auch der Punkt, an dem der Begriff des Raums zwischen den Konfliktparteien ins Spiel kommt? Das scheint für den Ansatz, den Sie bei der Konfliktlösung verfolgen, wesentlich zu sein.

Shapiro: Absolut, mein Interesse liegt darin, was den Raum zwischen den Parteien definiert. Es gibt mich, es gibt Sie, und dann gibt es unsere Beziehung. Wie definiert sich dieser Raum zwischen uns? Wir alle nehmen diese Phänomene wahr, aber wir geben ihnen selten einen Namen und verstehen sie nur selten. Wir alle haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass wir uns mit einem engen Kollegen  zusammensetzen und ein gutes Verhältnis zu ihm haben, und dann gehen wir in eine andere Sitzung mit einem Kollegen, den wir verachten, und spüren plötzlich dieses hässliche Gefühl in uns. Dieser Beziehungsraum ist getönt, gefärbt, auf unterschiedliche Weise gemalt, und das hat meine Neugierde geweckt. Was ist es, das diesen Raum psychologisch definiert? Einige der Theorien, die ich seither entwickelt habe, haben versucht, einige dieser Faktoren herauszufinden.

ZOE: Welches sind die Identitätsfaktoren, die wir bei der Konfliktlösung oder in einem guten Dialog beachten müssen?

Shapiro: Ein wichtiges Element ist die Zugehörigkeit – die emotionale Verbindung. Gute Mediatoren und Mediatorinnen arbeiten sehr effektiv daran, den Parteien zu helfen, die Verbindung wiederherzustellen, zumindest so weit, dass eine produktive Problemlösung möglich ist. Ein weiteres wichtiges Element ist die Autonomie – Menschen möchten sich in einer Beziehung frei fühlen, so zu sein, wie sie wollen. Sie mögen es nicht, wenn man ihnen etwas aufzwingt. Diese beiden Variablen – Zugehörigkeit und Autonomie – scheinen für das Konzept einer Beziehung von wesentlicher Bedeutung zu sein, ganz gleich, ob man die Dynamik einer Ehe oder sogar die Beziehungen zwischen identitätsbasierten Gruppen untersucht.

ZOE: Wie können Manager*innen oder Beratende bei organisatorischen Spannungen, Paradoxien und Konflikten die relationale Identität praktisch nutzen, um Unterstützung zu bieten und Organisationen zu helfen, voranzukommen?

Shapiro: Wenn ich in eine Organisation gerufen werde, neige ich dazu, meine Intervention anhand der drei Verhandlungsebenen zu strukturieren. Auf der ersten, der rationalen Ebene, helfe ich Führungskräften, die Grundlagen interessenbasierter Verhandlungen zu verstehen, indem ich sie dabei unterstütze, eine Sprache und Instrumente zu entwickeln, um optimale Ergebnisse zu verhandeln.

ZOE: Die zweite Verhandlungsebene adressiert dann wohl das Verstehen der emotionalen Dimension?

Shapiro: Der Schlüssel dazu liegt meiner Meinung nach darin, Organisationen zu helfen, Emotionen nicht mehr als Gefahr oder Hindernis, sondern als potenziellen Vorteil zu betrachten. Das Grundgerüst, das ich zum Thema Emotionen lehre, heißt Core Concerns Framework. Vor vielen Jahren haben Roger Fisher und ich ein Buch mit dem Titel «Beyond reason» veröffentlicht. Darin warfen wir die entscheidende Frage auf: «Wie sollte man mit Emotionen umgehen, wenn man verhandelt?» Wir stellten fest, dass die meisten Verhandlungsführer nicht weiterkommen: Einerseits kann niemand seine Emotionen loswerden. Sie sind Teil unserer menschlichen Natur. Aber gleichzeitig ist der Umgang mit Emotionen äußerst kompliziert! Die meisten von uns haben nicht den Luxus der Zeit, die Sigmund Freud hatte, als er jahrelang mit Patienten oder Patientinnen auf der Couch arbeitete und Träume, Wünsche und Ängste sezierte. Verhandlungsführer haben diese Zeit nicht – und sie müssen sich neben den Emotionen mit vielen anderen inhaltlichen Fragen befassen. Roger und ich haben das Core Concerns Framework als praktische Methode für Verhandlungsführer entwickelt, um die Macht der Gefühle zu nutzen. Das Modell zeigt, wie positive Emotionen in einer Verhandlung stimuliert werden können. Die Auswirkungen sind enorm: Die Parteien werden innovativer, geben mehr Informationen weiter, engagieren sich stärker für den Prozess und das Ergebnis und sind einander gegenüber loyaler. Die Beziehung verbessert sich – selbst in strittigen Situationen. Man erhält all diese erstaunlichen Vorteile, wenn man die positiven Emotionen einbringen kann.

ZOE: Sie konzentrieren sich also weniger auf Emotionen, sondern auf Grundbedürfnisse?

Shapiro: Ganz genau. Das ist die verborgene Kraft des Modells! Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einige wenige Grundbedürfnisse, die in Verhandlungen viele Emotionen auslösen. Roger und ich haben fünf  Grundbedürfnisse formuliert, von denen wir festgestellt haben, dass sie am stärksten zur Verbesserung von Verhandlungen beitragen: Wertschätzung, Autonomie, Zugehörigkeit, Status und Rolle. Wenn man mit diesen fünf Kernanliegen effektiv umgehen kann, stimuliert man positive Emotionen und erzielt positive Auswirkungen auf die Beziehung und das inhaltliche Ergebnis. Dieses Modell hat sich als äußerst effektiv erwiesen, von den höchsten Ebenen der Regierung und der Wirtschaft bis hin zu den Erfahrungen des täglichen Lebens.

ZOE: Sie stellen den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. In Organisationen haben wir unter anderem Rollen, Hierarchien und formale Rahmenbedingungen. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Shapiro: Jedes Mal, wenn ich eine Organisation berate, erkenne ich, dass ich ihre Welt, ihre Kultur, ihre Art, Dinge zu tun, betrete – und das wird zu einer nützlichen Information für die Diagnose potenzieller Quellen von Konflikten und Dysfunktionen. Ich erinnere mich, dass ein Kollege und ich vor Jahren gebeten wurden, eine Bank zu beraten. In einer ihrer wichtigsten Abteilungen hatten die Mitarbeitenden Konflikte miteinander, es gab passiv-aggressives Verhalten, und all das stand der Effizienz der Organisation im Wege. Der Leiter der Abteilung lud uns zu einer Beratung ein und sagte zu uns: «Mein Team muss Verhandlungsgeschick lernen! Sie sind nicht geschickt genug!» Mir war sofort klar, worauf er die Schuld schob: auf die Fähigkeiten seiner Untergebenen. Während unseres Workshops beobachtete ich außerdem die Interaktionen dieser wohlmeinenden Führungskraft mit ihrem Team. Es wurde deutlich, dass alle ihn als autoritäre Führungskraft betrachteten und Angst hatten, etwas zu sagen, was seiner Meinung zuwiderlaufen könnte. Sie wollten ihren Job und ihr Ansehen in der Organisation nicht verlieren.
Was sollten wir als Berater nun tun? Wir wurden hinzugezogen, um ein Verhandlungstraining anzubieten, nicht um den Leiter der Einheit zu coachen. Ich fühlte mich aber ethisch verpflichtet, meine Beobachtungen mit ihm zu teilen. Als wir den Workshop nach dessen Ende mit ihm nachbesprachen, führten wir ein behutsames Gespräch unter vier Augen, um ihm die potenziellen Auswirkungen seines sehr  entschiedenen Führungsstils auf die Arbeitskultur und das Arbeitsumfeld der Abteilung zu verdeutlichen. Das Bewusstwerden dieses Zusammenhangs gab ihm nun die Möglichkeit, sich zu entscheiden, wie er in Zukunft führen wollte.

ZOE: Bei all Ihrer Erfahrung mit komplizierten Gesprächen – was ist das Wesentliche an einem guten Dialog?

Shapiro: Bei einem guten Dialog geht es darum, sich die Sichtweise des anderen anzuhören – wirklich zu versuchen, ihn auf einer tiefen Ebene zu verstehen – und seine eigene Sichtweise respektvoll zum Ausdruck zu bringen. Das hört sich so einfach an – aber in der Realität eines Konflikts ist das extrem schwierig zu bewerkstelligen. Ein Beispiel dafür ist eine Übung, die ich im Laufe der Zeit entwickelt habe, die so genannte Stämme-Übung. Das erste Mal haben wir sie Mitte der neunziger Jahre in der Praxis erprobt, als es so aussah, als würde sich Mazedonien möglicherweise auf eine innenpolitische Krise mit möglicher Gewalt zubewegen. Wir wurden eingeladen, mit einigen der lokalen politischen Führer, Lehrer und anderen zu arbeiten, um ihnen zu helfen, die gefährliche Dynamik zu erkennen, auf die sie sich zubewegten, und um sie zu unterstützen, einen besseren Weg zu finden. Wir teilten die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip in acht verschiedene Gruppen ein. Jede Gruppe hatte die Aufgabe, ihre eigene Stammesidentität zu schaffen. Wir gaben ihnen eine Reihe von Fragen, um ihre Kernidentität zu definieren. Eine Stunde später kamen sie zurück und wir ließen sie ihre Stammesidentität mit dem Rest der Gruppe teilen. Dann wurde das Licht im Raum komplett schwarz und ein intergalaktischer Außerirdischer – jemand, der wie ein Außerirdischer gekleidet war – platzte in den Raum und sagte:«Ich bin ein intergalaktischer Außerirdischer. Ich bin gekommen, um die Erde zu zerstören. Ich werde euch eine Gelegenheit geben, diese Welt vor der völligen Zerstörung zu retten. Ihr müsst euch alle für einen Stamm entscheiden, der für immer der Stamm von allen sein wird, sonst wird die Welt zerstört.» Drei Runden später war die Welt zerstört.
Obwohl alle die Welt retten wollten, obwohl alle Teilnehmenden den Wert des guten Zuhörens und der Problemlösung kannten, entstand in diesem Raum die Dynamik des Konflikts – und die Welt explodierte. Sie waren schockiert. Als sie ihre Erfahrungen Revue passieren ließen, erkannten sie, dass diese Übung in vielerlei Hinsicht einen Mikrokosmos der Welt darstellte, auf die sie sich im wirklichen Leben zubewegten. Es war ein Weckruf, der diese lokalen Führungskräfte dazu motivierte, sich mehr für die Friedenskonsolidierung in ihrem Land einzusetzen.
Ich habe diese Übung seither Dutzende Male mit Gruppen unterschiedlichster Art auf der ganzen Welt durchgeführt, und fast immer wurde die Welt zerstört. Das hat mich tief getroffen. Denken Sie darüber nach: Im Laufe von buchstäblich 60 Minuten bilden Menschen eine fiktive Identität, mit der sie sich so sehr identifizieren, dass sie sich lieber an diese Identität klammern, als die Welt zu retten.

ZOE: Eine ziemlich entmutigende Erfahrung?

Shapiro: Die Übung hilft den Menschen, all die psychologischen Fallen zu erkennen, die Konflikte mit sich bringen können. Wir müssen nicht in diese Fallen tappen. Wir müssen uns ihrer bewusst sein und ihnen bewusst entgegenwirken. Die Übung mag im Moment entmutigend sein, aber die Lektionen sind eine Quelle der Hoffnung für einen besseren Umgang mit Konflikten im wirklichen Leben. Die wichtigste Lektion ist meines Erachtens, dass, wenn wir uns in unserer Identität bedroht fühlen, eine Reihe von emotionalen Dynamiken entstehen, um unsere Identität zu schützen. Aber dieselbe Dynamik kann die Beziehung zu unserem Gegenüber oft zutiefst schädigen und eine potenzielle Partnerschaft in eine feindselige Situation verwandeln. In dem Buch «Verhandeln» habe ich fünf dieser emotionalen Dynamiken identifiziert, die uns zu einer spalterischen Haltung verleiten. Ich nenne sie die «Fünf Verlockungen der trennenden Denkweise». Wenn Sie sich dieser Dynamiken bewusst sind, können Sie ihnen entgegenwirken.

ZOE: Was sind diese fünf Verlockungen?

Shapiro: Die erste ist das, was ich «Schwindel» nenne. Damit meine ich eine Bewusstseinsverschiebung, bei der wir emotional völlig in einen Konflikt hineingezogen werden. Wenn ich etwas sage, das Sie wirklich beleidigt, können Sie sehr schnell in ein Schwindelgefühl geraten. Es ist, als ob Sie in der Mitte eines Tornados festsitzen. Sie können nicht über die Grenzen des Tornados hinaussehen. Jetzt gibt es kein rationales Denken mehr – man steckt im Schwindel fest.

ZOE: Was wäre ein Beispiel?

Shapiro: Die Polarisierung in den Vereinigten Staaten. Versuchen Sie einmal, einen Demokraten und einen Republikaner, die unterschiedlich gewählt haben, zusammen an den Tisch zu bringen, um über Politik zu sprechen. Innerhalb von Sekunden schlägt der Blitz ein, und ihnen wird schwindlig. Sie hören nicht mehr zu. Selbst wenn sie rational zuhören wollen, sind sie im Schwindelgefühl gefangen.

ZOE: Was ist die zweite Verlockung?

Shapiro: Der Zwang zur Wiederholung. Einfach ausgedrückt: Wenn wir uns in unserer Identität bedroht fühlen, neigen wir dazu, dieselben dysfunktionalen Verhaltensmuster, die wir schon unzählige Male zuvor gezeigt haben, zu wiederholen. Wir streiten, kämpfen, brüllen, schreien oder behandeln den anderen mit Schweigen. Je mehr wir uns unserer dysfunktionalen Muster bewusst sind, desto bewusster können wir entscheiden, ob wir sie wiederholen oder ob wir neue Verhaltensweisen ausprobieren, die konstruktiver sind.

ZOE: Was ist die dritte Verlockung, und können Sie ein organisationales Beispiel nennen?

Shapiro: Tabus sind soziale Verbote. Was darf ich nicht sagen oder tun? Wenn man ein Tabu bricht, wird man oft von der Gesellschaft oder einer institutionellen Macht bestraft. Zurück zu meinem Beispiel vorhin in der Bank bei der Zusammenarbeit mit dem Bankdirektor: Ich habe ein Tabu gebrochen, indem ich dem Direktor der Abteilung meinen Rat angeboten habe. Er hatte mich nicht um diesen Rat gebeten. Damit riskierte ich, dass er mich nicht mögen und mich dafür beschimpfen könnte, dass ich den Rahmen meiner Rolle sprengte. Aber ich fühlte mich ethisch verpflichtet, ihm meine Beobachtungen mitzuteilen. Ich bin ein Risiko eingegangen und habe ein Tabu gebrochen, zu einem Zweck, den ich für sinnvoll hielt.

ZOE: Und die vierte Verlockung?

Shapiro: Das ist ein Angriff auf das Heilige. Das ist ein Angriff auf das, was Ihnen zutiefst wichtig ist, seien es religiöse, spirituelle oder säkulare Überzeugungen oder Werte. Wenn Sie das Gefühl haben, dass ich das angegriffen habe, was Ihnen heilig ist – dann wird unsere Beziehung plötzlich feindselig. Wir bewegen uns auf diese trennende Denkweise zu.

ZOE: Welche ist die fünfte Verlockung?

Shapiro: Ich nenne sie Identitätspolitik. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter dem Begriff Identitätspolitik verstanden, dass es sich um eine Minderheitengruppe handelt, die sich um eine bestimmte Identität versammelt und mit Hilfe der Politik versucht, für ihre Rechte und Gleichstellung einzutreten. Das ist nicht ganz das, was ich meine. Meine Version von Identitätspolitik ist viel allgemeiner und pragmatischer. Für mich entsteht Identitätspolitik immer dann, wenn man versucht, mit Hilfe der Identität politische Entscheidungen zu beeinflussen. Politische Führer bedienen sich oft der Identitätspolitik, wenn sie sagen: «Wir müssen uns alle vereinigen!» Normalerweise ist dieses «Wir» eine Auswahl von Gesellschaftsmitgliedern, die sie unter einer politischen Identität vereinen wollen, um einen politischen Zweck zu erreichen. Das «Wir» ist exklusiv. Man kann Identitätspolitik zum Guten oder zum Schlechten nutzen. Mandela nutzte sie zum Guten, und zwar auf eine sehr integrative Weise. Er wies darauf hin, dass «wir» – jeder in der Gesellschaft – uns zusammenschließen müssen, um die Gesellschaft zu verändern. Er und Erzbischof Tutu stützten sich auf die Philosophie des Ubuntu, dieses wunderbare traditionelle afrikanische Konzept, das besagt, dass die Menschheit miteinander verbunden ist, um die Gesellschaft in der Zeit nach der Apartheid zu vereinen.

ZOE: Wie werden die Menschen auf diese Verlockungen aufmerksam?

Shapiro: Indem man den Rahmen lehrt. In meinem Buch «Verhandeln» beschreibe ich jede einzelne Verlockung ausführlich und mein Ziel ist es, dass das Modell so weit wie möglich verbreitet wird. Je mehr Menschen diese Konzepte verstehen, desto mehr Macht haben sie, ein bisschen mehr Frieden in unsere Welt zu bringen. Ich habe das Modell bei vielen scheinbar unlösbaren Konflikten mit Erfolg eingesetzt. Ich erinnere mich an einen Workshop, den ich vor nicht allzu langer Zeit mit einer Gruppe von israelischen und palästinensischen Diplomaten leitete und in dem wir über diese Verlockungen sprachen. Eine Woche nach dem Workshop erhielt ich eine E-Mail von einer der Diplomatinnen. Sie schrieb mir, dass sie an einem offiziellen diplomatischen Tisch mit der anderen Seite saß und die meiste Zeit ein freundschaftliches und produktives Gespräch führte. Doch plötzlich seien sie bei einem der heikleren Themen angelangt. Sie sagte, dass sie plötzlich merkte, dass sie in einen Schwindel gezogen wurde. Doch anstatt einfach nur zu reagieren und sich zu wehren, wurde sie sich ihrer eigenen emotionalen Dynamik bewusster. Sie berichtete dann, dass sie sich selbst eine wichtige Frage stellte: «Will ich mich wirklich dem Schwindel hingeben?» Sie beschloss, dies nicht zu tun. Sie schrieb mir, dass es ihr Ziel sei, sich auf einige politische Ziele zu einigen, und dass eine zu starke Emotionalisierung am Verhandlungstisch sie daran hindern würde, dieses Ziel zu erreichen. Kurz gesagt, das Bewusstsein für den Schwindel half ihr, ihre Ziele zu erreichen. Ich war beeindruckt von ihrem Verhandlungsansatz. Sie war in der Lage, am Verhandlungstisch effektiver zu sein, weil sie nun über eine Sprache verfügte – ein Wort namens Schwindel –, um ihre emotionale Erfahrung zu benennen, was ihr wiederum die bewusste Kontrolle darüber gab, ob sie sich deren Auswirkungen beugen wollte. Sie entschied sich dagegen, was sich letztendlich positiv auf den Verhandlungsprozess auswirkte.

ZOE: Vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch.

Daniel L. Shapiro
Founder and Director, Harvard International Negotiation Program; Associate Professor of Psychology, Harvard Medical School/McLean Hospital; Deputy Director, Harvard Negotiation Project, Harvard Law
School

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Professor für Organisation und Führung an der KH Freiburg, Programmleiter und Co-Leiter Management Lab an der HBM Unternehmerschule der Universität St. Gallen, Partner osb international, Verwaltungsrat Max Zeller Söhne AG

 

Literatur:

• Fischer, R. & Shapiro, D. (2005). Beyond Reason. Using Emotions as You Negotiate, Penguin Books.
• Fischer, R. & Shapiro, D. (2019). Erfolgreicher verhandeln mit Gefühl und Verstand, 2. Aufl., Campus.
• Shapiro, D. (2018). Verhandeln. Die neue Erfolgsmethode aus Harvard, Campus.


Viel hilft meist nicht viel

Fokussierter Change statt Überforderung

Die Frage ist nicht neu und dennoch wiederholt sie sich seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit, befeuert von Statistiken zum Erfolg von Change-Programmen in der Wirtschaft: Woran liegt es, dass nur etwa ein Viertel der Vorhaben so gelingt, wie beabsichtigt, hingegen drei Viertel entweder nicht oder nur teilweise liefern, und das oft mit großer Verzögerung und explodierenden Kosten? Dieser Artikel macht zwei Hauptursachen dafür aus und elaboriert sie.

Die Welt steht Kopf und diejenigen, die Orientierung geben sollen, verzetteln sich. So könnte man die Situation in vielen Unternehmen beschreiben, die angesichts der gegenwärtigen Multi-Krisen-Situation herrscht: Ein Change-Programm jagt das nächste – in der Hoffnung auf den Befreiungsschlag, der doch endlich kommen und vom Übel der Überforderung, des andauernden Umsteuerns und unzufriedenstellender unternehmerischer Performance erlösen möge. Doch er kommt nicht. Das Hin- und Her-Wechseln zwischen Organisationsformen in kurzen Zyklen, die x-te Verfeinerung von Unternehmensprozessen, das Implementieren von Hype-Themen wie Agilität, New Work und Diversity scheint jedes Mal wieder die Chance auf Lösung mit sich zu bringen. Meist jedoch steht am Ende nur eine weitere Enttäuschung, wenn groß angekündigte und werbewirksam inszenierte Ziele nicht erreicht und behindernde Kernursachen nicht beseitigt werden.

Die Statistik dazu ist eindeutig: Nur etwa ein Viertel der Change-Vorhaben in der Wirtschaft gelingt (Sackmann & Schmidt, 2018). Diese Quote ist seit Jahren unverändert und sie sollte alarmieren, denn dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Nachteile. Schließlich werden Veränderungen in Unternehmen nicht aus Jux und Tollerei angegangen, sondern aus genau einem Grund: um einen unternehmerischen Nutzen und damit einen Vorteil am Markt zu schaffen. Kommt dieser später als geplant oder schlimmstenfalls gar nicht, öffnet das Tür und Tor für Erfolge der Wettbewerber. Der Blick auf prominente Unternehmen wie Quelle, Neckermann, Mediamarkt-Saturn und andere zeigt das drastisch. Die Insolvenzen von Görtz, Hakle und Leoni sind neuere Beispiele.

Doch das Alarmieren scheint auszubleiben. Stattdessen herrscht offenbar die Vorstellung, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können. Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen, das die Nachteile des vorherigen beseitigen soll. Darauf das dritte, vierte usw. Geschichten wie die eines Automobilzulieferers, der zunächst Hand an seine Prozesse gelegt, dann Lean-Management eingeführt, eine Qualitätsoffensive durchgezogen, fundamental umorganisiert, agile Methoden ausgerufen hat und jetzt auf Führung und Team-Diversity schaut, sind eher die Regel als die Ausnahme. Darüber vergehen zehn oder mehr Jahre, während das Personal immer noch über ähnliche fundamentale Schwächen klagt wie vor dieser Flut an Veränderungsmaßnahmen.

Vielfalt und Komplexität
Dazu passt das Phänomen, dass ob des rapiden technologischen und gesellschaftlichen Wandels, dem Unternehmen ausgesetzt sind, die Anzahl an Transformationsprogrammen geradezu explodiert ist, während gleichzeitig deren Laufzeiten kürzer und kürzer werden sollen. Der Bereichsleiter eines Energie-Unternehmens beklagte jüngst, dass er angesichts der schieren Menge der laufenden Change-Initiativen keinen Durchblick mehr hätte und nicht mehr in der Lage sei, für seine Teams vernünftig zu priorisieren. Neben drei konzern- und zwei bereichsweiten großen Programmen liefen noch mindestens zehn kleinere Vorgänge.
Was dann passiert, liegt auf der Hand: Die Programme kannibalisieren sich gegenseitig, buhlen konkurrierend um Aufmerksamkeit und Ressourcen. Wer am lautesten schreit und den größten Druck übers Management aufbaut, findet temporär Gehör. Kann das funktionieren? Natürlich nicht. Der Effekt ist Beliebigkeit: Es spielt keine Rolle, welches Vorhaben gelingt, und das oft über Jahre hinweg. Dieser Zustand kommt einem «Change-Overkill» gleich und ist unternehmerisch hoch kontraproduktiv. Ihn herbeizuführen ist leicht, das Rezept steht oben. Aus ihm herauszukommen, ist hingegen anstrengend und mühsam. Hauptursache Nummer eins für die geringe Erfolgsquote von Veränderungen ist also eine unüberschaubare Vielfalt und Komplexität der Change-Programme, die nicht mehr verstanden wird – weder von der Unternehmensleitung noch von den Führungskräften noch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern –, und die dazu führt, dass der unternehmerische Nutzen aus dem Blick gerät.

Fehlendes Verständnis
Sind Menschen dieser Situation über lange Zeit hinweg ausgesetzt, reagieren viele von ihnen mit Change-Müdigkeit. Sie geben es auf, die Zusammenhänge verstehen zu wollen, warten an der Seitenlinie ab und sehen zu oder machen gar Dienst nach Vorschrift. Dass sich darin ein Vertrauensverlust in diejenigen ausdrückt, die mit einer derart untauglichen Change-Architektur hantieren, wird meist nicht bemerkt. Dem Gelingen scheinen ja sachliche Gründe entgegenzustehen. Dann muss man sich eben gemeinsam mehr anstrengen und alles öfter erklären. Doch dieses Sich-Anstrengen kann nicht zum Erfolg führen, denn es ist wie der Versuch des Fahrens mit Vollgas bei gleichzeitig angezogener Bremse. Das führt zur Hauptursache Nummer zwei: Es fehlen sowohl das Verständnis dafür als auch der Fokus darauf, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen – oder anders gesagt: was sie treibt und dazu veranlasst, sich zu bewegen und gewohnte Pfade zu verlassen.

«Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen.»

Dabei geht es am Ende durchwegs um Verhaltensänderungen, also um ein «heute so» und «morgen anders», ohne die es keinen wirksamen Change geben kann. Wer schon einmal versucht hat, mehr Sport zu machen, abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören und es dann doch nicht getan oder nicht durchgehalten hat, weiß, wie hoch die Hürde für eine konsequente Verhaltensänderung ist. Überforderung und Vertrauensverlust sind definitiv keine geeignete Basis dafür.

Lösung I: Fokus auf unternehmerischen Nutzen

Im Grunde ist die Logik einfach: Der Dreh- und Angelpunkt jedes Change-Programms ist der angestrebte unternehmerische Nutzen. Woher auch sonst sollte die Motivation dafür kommen? Dieser Nutzen kann sehr vielfältig sein: Eine effizientere Projektbearbeitung, die die Gewinnmarge erhöht, fällt genauso darunter wie die Vereinfachung der Produktarchitektur, die Ausfallraten und damit Gewährleistungskosten senkt, oder die Hinzunahme neuer Marketingkanäle, die zu mehr Anfragen und Verkäufen führt. Nicht darunter fallen hingegen die Einführung eines neuen Werkzeugs oder einer neuen Methode um ihrer selbst willen oder das blinde Nachahmen dessen, was Wettbewerber tun, im Sinne von «me too». Auch eine persönliche Vorliebe oder Meinung, und sei sie noch so stark, ist kein Hinweis auf den unternehmerischen Nutzen. Beispiele für fehlenden Nutzen könnten unzählige aufgeführt werden. Ganz prominent sind «Agilität einführen» oder «New Work einführen» mit einer diffusen Vorstellung davon, was nach der Einführung anders ist als vorher. Kurze Iterationszyklen, mehr Kundenorientierung und Team-Empowerment sollen daraus resultieren, eine höhere Motivation und Wertschätzung werden auch gerne genannt. Das hört sich zwar gut und erstrebenswert an, doch es ist durch die Bank kein unternehmerischer Nutzen und taugt folglich nicht zur Motivation von Veränderungsaktivitäten.
Es muss also entweder weiter gedacht werden, etwa mit der Frage, welcher Mehrwert aus kurzen Iterationszyklen folgt und woran er festgemacht werden kann, oder der Rotstift angesetzt werden. Es könnte sein, dass der Hype «Agilität» nicht zum aktuellen Entwicklungsstand des eigenen Unternehmens passt oder nicht den Nutzen verspricht, den die Literatur anpreist. Dann heißt es, die Finger davon zu lassen, und wenn die Wettbewerber noch so stark darauf setzen.

 

Kein Change ohne Nutzen
Der Mehrwert von Change- und Transformations-Prozessen muss also unmissverständlich klar sein, um darin zu investieren. So bestechend einfach und nachvollziehbar diese Logik ist, so sehr wird sie in der Praxis verwässert. Erfahrungsgemäß ist bei der Vielfalt der Veränderungsaktivitäten in Unternehmen nur für weniger als die Hälfte der Vorgänge klar, was sie bringen sollen. Ein einfaches Gedankenspiel kann erste Hinweise auf die Situation in der eigenen Organisation geben: Man stelle sich nacheinander die gerade laufenden Change-Initiativen vor. Welche davon soll welchen Nutzen liefern? Die Antworten müssen wie aus der Pistole geschossen kommen. Tun sie es nicht, besteht zumindest Klärungs-, oft auch Handlungsbedarf. Für jede Veränderungsaktivität muss zweifelsfrei klar sein, welcher Vorteil daraus folgt. Diesbezüglich dürfen keine Unklarheiten bestehen bleiben, denn auf dem Fundament des Nutzens baut alles Weitere auf: Die Ziele und die Strategie des Change-Programms, das Einschätzen des Fortschritts und der Zielerreichung wie auch die Führung und die Kommunikation. Der zu erreichende unternehmerische Nutzen ist die einzige Legitimation für  Veränderungen. Es sei angemerkt, dass der Nutzen nicht unmittelbar ein monetärer sein muss, auch wenn ein grobes Überschlagen hilft. Geht es beispielsweise um ein Programm zur Förderung der Bindung ans Unternehmen, ist es angeraten, sich die unterschiedlichen Effekte klarzumachen, die davon zu erwarten sind – neben der offensichtlichen Einsparung beim Recruiting.
Was also ist zu tun? Erstens, das konsequente Filtern der Change-Vorgänge mit Blick auf ihren unternehmerischen Mehrwert (siehe Kasten). Zweitens, das ersatzlose Streichen derjenigen Vorgänge, deren Mehrwert in Zweifel steht. Drittens, das Konzentrieren mit aller Kraft auf diejenigen Vorgänge, die die eigene Organisation wirklich voranbringen. Das klingt eingängig und nachvollziehbar? Das ist es auch. Das ist leicht umzusetzen? Oft nicht so einfach, wie es klingt. Unterschiedliche Interessenslagen im Management-Team, Ängste und andere Befindlichkeiten spielen dagegen, bisweilen sogar recht massiv. Mittels solcher Entscheidungen werden Machtkämpfe in Unternehmen ausgetragen und Politik gemacht. Das Verfolgen der Devise «ohne klaren Nutzen kein Change-Programm» braucht ggf. härtere Bandagen und Durchhaltevermögen.

Überlastung vermeiden
Die weiteren Vorteile dieser konsequenten Haltung sind das Freiwerden von Ressourcen und das Entkommen aus dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad des Change-Overkills. Wenn eine Auswirkung der Krisen der letzten Jahre prominent im Vordergrund steht, dann ist es die Überlastung von Organisationen und der Menschen darin. Dieser könnte mit bewusster Fokussierung und Entlastung entgegengetreten werden, stattdessen ist ein erratisches Anstoßen von Change-Programmen nach dem Motto «viel hilft viel» verbreitet. Das ist vor dem Hintergrund der Ungewissheit in Krisen und damit einhergehender Ängste zwar erklärbar, verstärkt jedoch die Überforderung. Abhilfe schafft das Fokussieren auf den unternehmerischen Nutzen. Wird die Landschaft der Veränderungsvorhaben im eigenen Unternehmen um die Hälfte ausgedünnt und auf das Wesentliche konzentriert, das tatsächlich entscheidend weiterhilft, folgt eine deutliche Entlastung für Führungskräfte wie auch für ihre Teams. Zudem entsteht dadurch ein Gewinn an Klarheit für den unternehmerischen Kurs. Genau dort geht es lang.

Lösung II: Fokus auf Menschen

Kaum wird ein Change-Programm angekündigt, schon reagieren Führungskräfte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganz unterschiedlich darauf. Die einen freuen sich über die schon lange überfällige Veränderung und gehen begeistert mit, die anderen wollen nichts davon wissen und lassen keine Gelegenheit aus, ihre Missbilligung kundzutun sowie dagegen zu arbeiten. Dazwischen gibt es jede Menge weiterer Positionen. Dabei ist klar: Solange der einzelne Mensch in seinem Denken und Verhalten nichts verändert, sondern morgen genauso denkt und handelt wie heute, bleibt alles beim Alten. Dazu kommt, dass die einzelnen Menschen nicht unabhängig voneinander agieren, sondern Teil des durchaus komplexen sozialen Systems «Unternehmen» sind, in dem es Beziehungen und Abhängigkeiten gibt, eine Historie und gespeicherte Erfahrungen sowie die Fähigkeit der Selbststabilisierung. Letztere ist etwa bei einem Führungswechsel beobachtbar: Die davon Betroffenen richten ihr Verhalten zügig an den neuen Macht- und Einflussstrukturen aus, unabhängig davon, ob das unternehmerisch günstig und so gewünscht ist. Zudem sind Menschen aus konstruktivistischer Sicht als autopoietisch zu verstehen (Stangl, 1989). Das bedeutet, dass der Einzelne seine Existenz und sein Verhalten aus sich heraus erzeugt, seine Zustände und Zustandsänderungen selbst steuert, seine Beziehung zu seiner Umgebung selbst wählt und gegenüber dieser autonom ist. Oder anders gesagt: Jeder Mensch entscheidet basierend auf seiner eigenen Wahrnehmung über den Sinn und die Machbarkeit einer anstehenden Transformation. Jeglicher Versuch des Verordnens oder Überstülpens von Veränderungen muss also fehlschlagen. Vielmehr kommt es darauf an, das Angebot «Change» so zu gestalten, dass es eher anzieht als abstößt.

Emotionen sind der Schlüssel
Wie geht das? Die Grundhaltung dazu ist, Change-Programme so anzugehen, dass Menschen bereit sind, Selbstveränderungen zu initiieren, die günstig sind für die gewünschte unternehmerische Richtung – also den Fokus auf das zu legen, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen. Entscheidend dafür ist das Verständnis, dass Menschen sich dann bewegen, wenn sie emotional dabei sind (Lederer, 2022). Sind sie nur rational dabei, bewegen sie sich nur mit Mühe (siehe Kasten S. 57). Zwar ist diese Erkenntnis nicht neu, gleichwohl fehlt in der Regel das Verständnis dafür und folglich auch die Umsetzung. «Bei uns wird rational und sachorientiert entschieden, Gefühle haben dabei nichts verloren», ist die überwiegend anzutreffende Einstellung; also Sachorientierung statt Menschenorientierung. Damit ist in puncto Change kein Staat zu machen. Die Notwendigkeit der emotionalen Zustimmung zu ignorieren, ist die prominenteste Ursache für die geringe Erfolgsquote von Veränderungsvorhaben. Menschen sind keine hochgradig rationalen Wesen, denen man nur erklären müsste, was warum nötig ist, damit sie gewohnte Verhaltensmuster ändern. Unzählige Veränderungsprogramme, in denen es nicht oder nur sehr zäh vorangeht, sprechen eine deutliche Sprache. Sowohl Sachorientierung als auch Menschenorientierung ist die Lösung.

 

Die Salutogenese hilft
Damit stellt sich die nächste Frage: Wie kann emotionale Zustimmung erreicht werden? Eine überaus nützliche Handreichung dafür sind die Prinzipien der Salutogenese, die auf Forschungen des amerikanisch-israelischen Medizin-Soziologen und Stressforschers Aaron Antonovsky zurückgehen (Antonovsky, 1997). Deren essenzieller Kern ist, dass es Menschen gut geht und sie ein Grundvertrauen darin empfinden, an sie gestellte Anforderungen bewältigen zu können, wie etwa diejenigen, die aus Change-Programmen kommen, wenn Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit gegeben sind – und zwar aus der individuellen Perspektive des und der Einzelnen. Die Summe dieser drei Aspekte nennt Antonovsky Kohärenzgefühl. Das Spannende daran ist die Einfachheit bei gleichzeitiger Wirksamkeit, mit der diese Prinzipien in der Praxis anwendbar sind. Im Grunde wird daraus ein Filter, mit dem sämtliche Aspekte und Aktivitäten einer Change-Initiative bewertet werden können (siehe Kasten). Sowohl mit Blick auf die Veränderungsstrategie als auch auf Führung, Kommunikation, Umsetzung etc. fragt man sich, ob aus Sicht der Betroffenen Kohärenz gegeben sein kann, und steuert nach, falls nicht. Die gute Nachricht: Die konsequente Anwendung bringt unmittelbar voran. Die schlechte: Man wird auf Widerstände treffen, denn es fehlt oft an Sensibilität und Einsicht dafür, dass derartiger «Psychokram» helfen kann. Eine von oben verkündete Veränderungsstrategie sowie eine Reihe Change-Manager und -Workshops werden es schon richten, oder? Nein, das werden sie nicht. Kohärenz entsteht u. a. dann, wenn Führungskräfte ihren Teams vermitteln können, was sich an ihren täglichen Abläufen  verändert, mit welchen Mitteln diese Veränderungen umgesetzt werden und wie das zum gewünschten unternehmerischen Nutzen beiträgt. Die Erfolgsaussichten derart getrimmter Transformationsprozesse steigen signifikant, da via des Abklopfens auf Kohärenz bereits im Vorfeld die Weichen Richtung hoher Akzeptanz gestellt werden. Umgekehrt ist bei schiefgehenden Veränderungen zu beobachten, dass mindestens eines, häufig
sogar zwei oder alle drei Kohärenzprinzipien nicht erfüllt sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

Cut-off-Punkt
Ein weiterer Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit: Das Vermeiden von Überforderung beim Change, und zwar sowohl des Unternehmens als Ganzes wie auch des Managements und der Belegschaft. Überforderungsvermeidung ist sowohl im Kontext des Fokussierens auf den unternehmerischen Nutzen relevant, siehe oben, als auch mit Blick auf das menschenorientierte Gestalten von Change. Dabei spielen einerseits Kontextwechsel aufgrund von Unterbrechungen der «regulären Arbeit» durch vielfältige Change-Aktivitäten eine Rolle. Diese führen nicht nur zu einem Mehrbedarf an Zeit und Ressourcen aufgrund der erforderlichen Re-Fokussierung, sondern auch zu einem gesteigerten Stressempfinden (Starker et al., 2022). Zwar sind die Effekte solcher Kontextwechsel bekannt, doch wird in Transformationsprozessen kaum Rücksicht darauf genommen. Gang und gäbe ist die Metapher vom «Umbau des Vehikels bei voller Fahrt», die die sofortige produktive Anwendung des Neuen erwartet, ohne Spielraum dafür einzuräumen – offensichtlich eine Illusion.
Andererseits bedeutet das Sich-Einlassen auf Veränderungen, unbekanntes Terrain zu beschreiten und damit per se Unsicherheit und Belastung. Die Neurobiologie verweist darauf, dass unser Gehirn viel leichter und mit deutlich geringerem Energieaufwand gewohnte Pfade beschreitet als neue (Roth, 2007). Das Bilden neuer Verknüpfungen im Gehirn braucht Aufmerksamkeit und Wiederholungen. Kein Wunder also, dass Überforderung ein schlechter Ratgeber für Change-Prozesse ist und dem Beibehalten eingeübter Arbeitsweisen bzw. dem Rückfall dazu Tür und Tor öffnet. Daraus folgt: Wenn Veränderungen gelingen und zum «neuen Normal» werden sollen, braucht es Spielraum. Weder mit Blick auf Kontextwechsel noch auf den Lernvorgang im Gehirn, funktioniert «viel hilft viel», ganz im Gegenteil. Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen, wenn der Fokus nicht verloren gehen und die Erfolgswahrscheinlichkeit hoch sein soll. Als Faustregel kann gelten: Zwei größere und zwei kleinere Change-Vorgänge sind der Cut-off-Punkt für den einzelnen Menschen, etwa zehn Prozent der Personalkapazität derjenige fürs ganze Unternehmen – siehe den Aspekt der Handhabbarkeit Handhabbarkeit aus der Salutogenese. Das überrascht viele Führungskräfte, wenn sie an ihre unüberschaubare «Change-Tapete» denken. Zudem kommt häufig das Argument, dass eine derartige Begrenzung zu langsam mache gegenüber dem Wettbewerb. Doch das zieht nicht, denn nichts macht langsamer als misslingende Change-Programme, von denen es gemäß Statistik nach wie vor viel zu viele gibt.

«Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen.»

Fazit

Es ist an der Zeit, den unternehmensschädlichen Trend mehrheitlich fehlschlagender Veränderungsprozesse umzukehren. Die konsequente Fokussierung auf deren unternehmerischen Nutzen sowie die  Berücksichtigung dessen, was Menschen brauchen, um neue Wege einzuschlagen, sind zwei wirksame Mittel der Wahl. Beide erlauben die einfache Bewertung von Change-Programmen hinsichtlich ihrer unternehmerischen Tauglichkeit. Diese Bewertung führt einerseits zur Reduktion der Change-Last in Unternehmen und andererseits zu einer deutlich höheren Erfolgsrate. Das ist nicht nur in Zeiten knapper Ressourcen eine Win-win-Strategie.

 

Dr. Dieter Lederer
Unternehmensberater, Executive-Coach, Autor und Investor Dr. Lederer Consulting GmbH

 

Literatur:

• Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. dgvt.
• Lederer, D. (2022). Der Change-Code. Wiley.
• Roth, G. (2007). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta.
• Sackmann, S. & Schmidt, C. (2018). Change-Fitness-Studie 2018. Mutaree GmbH & Universität der Bundeswehr München.
• Schiffer, E. (2013). Wie Gesundheit entsteht. Beltz.
• Stangl, W. (1989). Das neue Paradigma der Psychologie. Vieweg.
• Starker, V., Bracht, E., Roos, K. & van Dick, R. (2022). Gehirngerechtes Arbeiten. OrganisationsEntwicklung, 4, 76-78.


Augenrollen inklusive

Veränderung und Widerstand in der öffentlichen Verwaltung

Dem öffentlichen Sektor wird in Bezug auf den Umgang mit Wandel eine große Abwehr und Beharrlichkeit nachgesagt. Sind die Unterschiede zwischen Unternehmen und Verwaltungsorganisationen tatsächlich so groß? Für die ZOE hat Marcus Quinlivan mit seinem Kollegen Torsten Dubbermann gesprochen, der beide Seiten gut kennt. Er war mehr als 20 Jahre Führungskraft im öffentlichen Sektor, zuletzt als stellvertretender Leiter einer Landesverwaltung mit 1.600 Mitarbeiter*innen und begleitet nun als Coach, Mediator und Organisationsberater sowohl privatwirtschaftliche Unternehmen als auch Verwaltungen in Change-Prozessen.

ZOE: Torsten, hier in Berlin schütteln viele Leute verständnislos mit dem Kopf, wenn es um die öffentliche Verwaltung in der Stadt geht – sie hat keinen guten Ruf. Du begleitest als Coach Veränderungsprozesse sowohl in Unternehmen als auch in der öffentlichen Verwaltung. Inwiefern unterscheidet sich denn der Umgang mit Veränderung in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung?

Dubbermann: Die Herausforderungen und Dynamiken rund um Veränderung sind in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung letztlich die gleichen. Der eigentliche Unterschied liegt im wirtschaftlichen Ziel der Organisation und damit meist auch der Veränderungen: Privatwirtschaftliche Unternehmen sind gewinnorientiert. Die öffentliche Verwaltung ist hingegen vor allem der Qualität und Rechtssicherheit ihrer Produkte verpflichtet.

ZOE: Wie kommt es denn, dass die öffentliche Verwaltung dabei als veränderungsträge wahrgenommen wird?

Dubbermann: Es stimmt ja, Veränderungen in der Verwaltung stoßen oftmals auf Widerstände. Das hat allerdings in aller Regel nichts mit persönlicher Verweigerungshaltung, mangelnder Motivation oder Unlust zu tun. Quelle von Widerstand ist oftmals die – berechtigte – Sorge um die Güte und Rechtssicherheit von Verwaltungsprodukten, also Bescheiden, Verfahren etc. Verwaltung ist dem Recht und Gesetz verpflichtet, insofern ist die Rechtssicherheit hier ein hohes Gut. Meiner Erfahrung nach sind die besagten Vorbehalte gegen Veränderung daher oft angebracht.

ZOE: Aber woher kommt denn üblicherweise der Anstoß für Veränderung?

Dubbermann: Antreiber für große Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung kommen oft aus dem politischen Raum und ergeben sich aus der jeweiligen politischen Agenda. Das sind schon zwei recht unterschiedliche Perspektiven. Beide haben aber ihre Berechtigung und Wichtigkeit: Die Politik als Antreiber, um auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, und die Verwaltung als Hüterin der rechtssicheren Umsetzbarkeit.

ZOE: Aber die Politik ist doch sicher nicht der einzige Treiber von Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung. Welche Rolle spielen einzelne, engagierte Führungskräfte?

Dubbermann: Im Einzelfall spielen sie eine große Rolle, zumal wenn sie noch eher neu an der jeweiligen Stelle sind, dann gibt es immer wieder Führungskräfte, die sich energisch für bestimmte Veränderungen einsetzen. Klar, dass sie sich dabei an den Rahmen ihrer rechtlichen Aufgabenstellung halten müssen, aber mit so einer Rahmensetzung haben es Führungskräfte ja in jeder anderen Organisation ebenso zu tun. Und dann gibt es natürlich noch eine dritte Gruppe, die Veränderungen anstößt. Man darf nicht vergessen, welchen Stellenwert Mitglieder für eine selbstverwaltete Verwaltung haben.

ZOE: An welche Art von Selbstverwaltung denkst Du dabei?

Dubbermann: Nehmen wir zum Beispiel die gesetzliche Sozialversicherung, in der ich lange tätig war. Dort spielen die Arbeitgeber und die Versichertengemeinschaft eine enorme Rolle, sie haben sehr wohl eigene Interessen. Die wollen z. B., dass ihre Beiträge nicht allzu sehr steigen bei trotzdem guten Leistungen.

ZOE: Anlässe für Veränderung in der öffentlichen Verwaltung gibt es also verschiedene. Welche Reaktionen erlebst Du denn bei den Menschen, die in der öffentlichen Verwaltung arbeiten, wenn es um umfassende Change-Prozesse geht?

Dubbermann: Grundsätzlich ist allen Beteiligten klar, dass die politischen Machtverhältnisse sich alle vier, fünf oder sechs Jahre ändern können und dass damit Prioritätenwechsel einhergehen – das bedeutet dann eben auch Veränderungen für die öffentliche Verwaltung. Das gibt schon mal ein Augenrollen, ist aber grundsätzlich akzeptiert. Das ist ja Normalität, wird aber schon mal als aufgepfropft und praxisfern erlebt.

ZOE: Und, stimmt das? Wie gut informiert sind denn politische Entscheidungsträger*innen über die Funktionsweise und Spannungsfelder in der öffentlichen Verwaltung?

Dubbermann: Die Verwaltung wird oft als bloß ausführende Hand der Politik verstanden, aber das greift zu kurz. Die Anliegen, die ich von den Menschen dort immer wieder höre, sind elementarer Bestanteil gelebter Rechtsstaatlichkeit.

ZOE: Welche Aspekte genau sind denn das, die seitens der politischen Veränderungstreiber mehr Berücksichtigung finden sollten?

Dubbermann: Von außen werden leicht die zahlreichen Zielkonflikte übersehen, mit denen es die Verwaltung zu tun hat. Diese Zielkonflikte sind kein Unfall, sondern normal und notwendig. Nehmen wir zum Beispiel ein Digitalisierungsprojekt, wie es gerade viel vorkommt. Eines der wichtigsten Ziele ist dabei zunächst die Steigerung von Effektivität oder Effizienz. Dem gegenüber steht dann aber ein Ziel wie Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit.

ZOE: Das klingt vielleicht paradox – gehen Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht in die gleiche Richtung?

Dubbermann: Nicht unbedingt. Neue IT-Lösungen versprechen mittel- und langfristig eine höhere Effizienz, also kostengünstigere Leistungen. Das Problem: Kurzfristig führen sie zu erheblichen Mehrkosten und einem Rückgang der Leistungen. Das steht im Widerspruch zur Sparsamkeit, die eher kurzfristig betrachtet wird. Man denkt in öffentlichen Verwaltungen weniger in Kategorien von «Return on Investment nach X Jahren», sondern achtet auf Haushaltsdisziplin, darauf, dass jährliche Budgets nicht überschritten werden. Das sind die Maßstäbe, und die werden im Grunde genommen durch einen gewissen Rechtsrahmen vorgegeben, je nachdem welches Finanzierungssystem vorliegt.

ZOE: Welche Finanzierungssysteme hast Du da im Sinn?

Dubbermann: Was einem als erstes in den Sinn kommt, sind natürlich Steuergelder. Die öffentliche Verwaltung hat es aber auch mit Beitragsgeldern von Mitgliedern zu tun, zum Beispiel in der Sozialversicherung. Und über diese Mittel dürfen Verwaltungen eben nur nach klaren rechtlichen Vorgaben verfügen. Hier wie da gilt: Die Betrachtungsweise ist häufig sehr periodenbezogen. Und aus dieser Perspektive sind Maßnahmen zur langfristigen Effizienzsteigerung für die aktuelle Finanzierungsperiode erst mal ein Rückschritt. Insofern stellen Effizienzsteigerungen und Sparsamkeit durchaus einen Zielkonflikt dar.

ZOE: Welche anderen typischen Zielkonflikte begegnen Dir in Veränderungsvorhaben in der öffentlichen Verwaltung?

Dubbermann: Nehmen wir als Beispiel das Spannungsverhältnis von Mitsprache und Effizienz. Einerseits haben wir zunehmend verbriefte Verpflichtungen zur Bürgerbeteiligung, man denke zum Beispiel an größere Baumaßnahmen im öffentlichen Raum. Das Thema Mitsprache betrifft aber genauso die Beteiligung des eigenen Personals aus personalvertretungsrechtlichen Gründen. Diese Formen der Beteiligung sind heute immer wichtiger – und sie werden aufwändiger. Dann wird schnell klar, dass Beteiligung Zeit und Geld kostet. Insofern hat die öffentliche Verwaltung mit einem Zielkonflikt zwischen Mitsprache und Effizienz zu tun, dem sie nicht entrinnen kann.

ZOE: Wenn ich es richtig verstehe, gab es diese Zielkonflikte schon immer. Es klingt so, als hätten sie aber in den letzten Jahren an Schärfe zugenommen.

Dubbermann: Das stimmt. Zielkonflikte gab es schon immer, aber die Schere geht weiter auf. Die Anforderungen an Verwaltung nehmen zu, der Wirtschaftlichkeitsdruck nimmt zu. Wir haben es heute mit mehr Regeln, einer höheren Komplexität und größerem Zeitdruck für Verwaltungsprozesse zu tun.

ZOE: Ich würde gerne auf die Digitalisierung zurückkommen, das dürfte ja eine der größten Umwälzungen in der öffentlichen Verwaltung nach sich ziehen. Wie steht es mit der Veränderungsbereitschaft in der öffentlichen Verwaltung in Digitalisierungsprojekten?

Dubbermann: Ein zentraler Zielkonflikt bei der Digitalisierung betrifft das Verhältnis von Komplexität und Standardisierung: Verwaltungen sind ja wie gesagt der Umsetzung von Recht und Gesetz verpflichtet. Das zugehörige Rechtssystem für öffentliche Verwaltung ist im Laufe der Zeit viel umfassender, viel komplexer geworden. Das macht es zunehmend schwieriger, ein rechtssicheres Produkt herzustellen. Gleichzeitig versucht man mit der Einführung von Software solche Produkte und die dahinterliegenden Prozesse zu standardisieren und zu vereinfachen. Im Idealfall sollten dafür natürlich bestehende Software-Lösungen zum Einsatz kommen. Solange es um klassische Querschnittsprozesse wie Human Resources oder Finance, Controlling geht, funktioniert das auch noch einigermaßen. Hier sind die Ähnlichkeiten zwischen der  Unternehmenswelt und der öffentlichen Verwaltung groß genug, dass die ursprünglich für den Konzern-Kontext angebotenen Software-Pakete dann auch für den öffentlichen Verwaltungsapparat funktionieren. Ganz anders sieht es allerdings aus, wenn es um einen Leistungsbescheid in einer Krankenkasse geht oder eine Baugenehmigung zu modellieren ist. Das ist mit Standard-Software praktisch nicht mehr möglich, und dann gibt es im Grunde genommen keine Muster mehr. Kann gut sein, dass sich da künftig mehr Standard-Software-Pakete herausbilden, aber bislang ist der Anspruch an Standardisierung angesichts der  Komplexität der Anforderungen kaum umsetzbar.

ZOE: Als jemand, der anspruchsvolle Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung kennt: Welchen Ratschlag hättest Du an die dortigen Führungskräfte?

Dubbermann: Das Zielsystem der öffentlichen Verwaltung insgesamt im Blick zu haben, sich über die immanenten Zielkonflikte im Klaren zu sein. Und das möglichst schon bevor der eigentliche Change-Prozesse beginnt. Erfahrungsgemäß gelingt das am besten, wenn Führungskräfte bereits früh im Prozess dafür sorgen, dass die verschiedenen Beteiligten an einen Tisch kommen und mögliche Zielkonflikte ausloten – gemeinsam mit Mitarbeitenden und mit Hilfe externer Beraterinnen und Berater.

ZOE: Und wenn Du den Mitarbeitenden, die von größeren Veränderungsprozessen in der öffentlichen Verwaltung betroffen sind, einen Wunsch mit auf den Weg geben könntest?

Dubbermann: Mitarbeitende möchte ich gerne ermutigen, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Interessen, ihre Ziele in solche Prozesse einzubringen. Auf eine möglichst produktive Art und das heißt oftmals rechtzeitig. Ziel sollte sein, gar nicht erst in die Verlegenheit zu kommen, sich auf eine Verweigerungshaltung, Abwehrhaltung oder Augenrollen zu beschränken, sondern alle Gelegenheiten zur konstruktiven Mitgestaltung zu nutzen. Denn diese Möglichkeiten sind ja in aller Regel gegeben, zum Glück. Es gibt da ein starkes Personalvertretungsrecht und klare Tarifverträge, die schaffen die sichere Basis für Mitspracherechte, und die sollten Mitarbeitende aktiv nutzen. Das beinhaltet auch, das Gespräch mit Führungskräften zu suchen.

ZOE: Und schließlich die Beratenden – was sollten die bei Change-Prozessen in der öffentlichen Verwaltung besonders beherzigen?

Dubbermann: Externe Beratung spielt bei manchen Projekten eine immer größere Rolle, Stichwort Digitalisierung. Gerade Beraterinnen und Beratern in der Fachberatung, also z. B. bei externer IT-Expertise, würde ich immer mitgeben: Macht Euch ein differenziertes Bild der Situation und schaut Euch die Zielsysteme in ihrer Komplexität an. Geht dabei nicht davon aus, dass Eure in der Unternehmenswelt geprägten Annahmen einfach eins-zu-eins auf die öffentliche Verwaltung übertragbar sind.

ZOE: Wo muss ich als Berater*in denn hinschauen, um etwas über die relevanten Zielsysteme zu erfahren?

Dubbermann: Zunächst stelle ich als Berater*in sicher, dass alle betroffenen Mitarbeitenden im Projekt einbezogen werden. Dass all das relevante Praxiswissen an Bord ist und in der Projektgruppe abgebildet werden kann. Dazu genügt es nicht, sich auf die formellen und technischen Vorgaben zu beschränken. Notwendig sind immer separate Befragungen der Anwender*innen, aber auch systematische Alltagsbeobachtungen: Wie laufen die Arbeitsschritte im Alltag tatsächlich ab? Hieraus lässt sich dann ableiten, welche Kalküle und Ziele die Beteiligten tatsächlich heranziehen. Das kann auch mal heißen, widerstreitende Ziele zu erkennen und diesen in der Projektgruppe eine Stimme zu geben.

ZOE: Zu guter Letzt: Du warst jahrelang Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung, warst stellvertretender Behördenleiter und Dezernatsleiter und hattest mit zahlreichen größeren Veränderungsprojekten zu tun. Gibt es etwas, was Du an Deiner Zeit in der Verwaltung vermisst? Oder eine Botschaft, die Du damals gerne gekannt hättest?

Dubbermann: Was mir immer viel Freude an der Arbeit in der öffentlichen Verwaltung gemacht hat, ist Verantwortung zu haben und einen besonderen Beitrag zu leisten für das Gelingen von gesellschaftlichem Zusammenleben. Noch nicht so klar wie heute war mir, wie wichtig ein positives Menschenbild und wertschätzender Umgang in der Arbeitswelt und speziell für meine eigene Zufriedenheit sind.

 

Torsten Dubbermann
Dubbermann | Coaching & Mediation

Marcus Quinlivan
Partner und CEO denkmodell GmbH


Wie die Eintracht Geschichte(n) macht

In kaum einem Bereich lässt sich Storytelling so gut nutzen wie im Sport, wo es oft hoch emotional hergeht und sowohl Triumphe als auch Niederlagen zahlreichen Stoff für Geschichten oder Inszenierungen bieten. Für die ZOE hat Anne Meyer-Minnemann mit Jan Martin Strasheim, Bereichsleiter Kommunikation und Medien beim Fußballklub Eintracht Frankfurt, über die Besonderheiten seines traditionsreichen Vereins, die Macht und Entstehung von Geschichten und die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie für den Profisport gesprochen.

ZOE: Herr Strasheim, Eintracht Frankfurt blickt seit der Gründung 1899 auf eine Vereinsgeschichte voller legendärer Geschichten zurück. Was ist so besonders an diesem Fußballverein?

Strasheim: Es sind die Menschen, die ihn tragen. Eintracht Frankfurt bezeichnet sich selbst als basisorientiert, versucht die Anliegen im Umfeld ernst zu nehmen und nach außen zu transportieren. Ein Bekenntnis zur Tradition, zur Region heißt hier nicht, dass man kleinbürgerlich und verbohrt ist. Frankfurt als historische Handelsstadt ist seit jeher weltoffen, war immer Verkehrsknotenpunkt in Europa und hat schon immer Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zusammengebracht. Eintracht Frankfurt ist auch international ausgerichtet und trotz des sehr traditionell geprägten Leitbildes immer wieder im Modernisierungsprozess. Und dies in aller Offenheit mit dem Anspruch sich weiterzuentwickeln mit dem Wissen nicht fehlerfrei zu sein. Aufgrund vieler Tiefpunkte in der Vergangenheit – wie es viele Traditionsklubs erleben mussten und müssen – ist ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl über die Jahre entstanden. Das war aus meiner Sicht mit ausschlaggebend für zuletzt zwei Titelgewinne in vier Jahren. Für einen Klub wie Eintracht Frankfurt eine außergewöhnliche Bilanz.

ZOE: Ein Klassiker des Storytellings ist das Personifizieren von Marken oder Organisationen. Die Eintracht hat eine für einen Fußballklub ungewöhnliche Persona. Sie wird auch die «launische Diva» genannt. Sogar in der Vereins-Hymne wird sie so besungen: «Mit dem Adler im Herzen, sind wir geboren. Die launische Diva, hat uns auserkoren.» Können Sie uns das erklären?

Strasheim: Es ist eine Frage der Herkunft und der Geschichte. Als junger Fan habe ich es oft gespürt. Hohe Ambitionen, große Ideen, viele Hoffnungen – Eintracht Frankfurt war auch aufgrund des medialen Umfeldes gut darin, Hoffnungen zu wecken, Luftschlösser zu bauen. Teilweise wurde spektakulärer Fußball gespielt, auf der Zielgeraden der entsprechenden Wettbewerbe sorgten oftmals Unstimmigkeiten im Klub für ein Scheitern. Man hatte oft das Gefühl, dass in diesem Klub mehr möglich gewesen wäre, durch divenhaftes Verhalten aber letztlich verhindert wurde. Es hatte immer ein bisschen was von Selbstzerstörung. Aber: Auch das hat eine Faszination ausgemacht. Eintracht Frankfurt war dennoch irgendwie immer liebenswert und hat spannende Geschichten produziert. Das ist bis heute so. Und gehört auch im Narrativ zum Klub.

«Die Auf jetzt!-Kampagne war nur erfolgreich, weil sie aus der Fan-Szene kam.»

ZOE: Im Profisport sind Gewinnen und Verlieren, Jubel und Enttäuschung ständige Begleiter. Hilft dieses gelernte Auf und Ab auch mit nichtsportlichen Krisensituationen umzugehen, wie zum Beispiel der Corona-Pandemie?

Strasheim: Davon bin ich überzeugt. Fußballvereine insgesamt haben in den letzten Jahren eine enorme Resilienz aufgebaut. In der Pandemie hat man gespürt, dass wir Organisationen sind, die nicht nur Sportler weiterentwickeln, sondern auch sportliches Denken in uns tragen. Wir haben die Situation als Herausforderung angenommen und sind meiner Meinung nach deshalb stark aus der Pandemie zurückgekommen. Ich erinnere mich gut an all die Termine und Telefonate, die wir in der Anfangszeit hatten – wie viele andere Organisationen hatten wir regelrechte Existenzängste. Wenn ich Revue passieren lasse, wie wir aus dieser schwierigen Zeit rausgekommen sind – vor allem auch aus der medialen Perspektive – war es erfolgreich.

ZOE: In der Pandemie mussten sportliche Erfolge und Niederlagen ganz anders erzählt werden als in Zeiten, in denen Fans im Stadion hautnah mitfiebern. Was haben Sie in dieser Zeit kommunikativ anders gemacht, um die Fans der Sportgemeinde Eintracht (SGE) bei der Stange zu halten?

Strasheim: In Deutschland entstanden zu Beginn der Pandemie enorme Ressentiments gegen den Profifußball, weil versucht wurde, trotz allem den Spielbetrieb aufrecht zu halten. Der Fußball lebt ja in allererster Linie von TV-Geldern als eine der wichtigsten Einnahmequellen. Es wäre ein wirtschaftliches Fiasko gewesen, die Saison nicht mehr zu Ende spielen zu können. Wir hatten also die große Aufgabe, den Menschen zu erklären,warum es trotz der Pandemie diese speziellen Rechte für den Fußball gibt. Dass Vereine mittelständische Unternehmen sind, dass weitaus mehr daran hängt als «nur» Profifußballer. Aber natürlich gab es das Bild: der Profifußball hier, Schulen und Krankenhäuser dort. Auf der anderen Seite war es für uns enorm wichtig, während der Pandemie-Jahre zu versuchen, die emotionale Bindung zu dem Verein nicht verloren gehen zu lassen.

ZOE: Damals haben Sie ein bereits bewährtes Krisennarrativ zu neuem Leben erweckt. Ich spiele auf die Kampagne «Auf jetzt!» an. Was hat es damit auf sich?

Strasheim: Die Kampagne hatten wir 2016 ins Leben gerufen, als Eintracht Frankfurt mit dem Rücken zur Wand stand. Damals ist die Mannschaft dem Abstieg knapp entronnen. Es wirkte alles zersplittet: enttäuschte Fans, verunsicherte Spieler und Tristesse im Gesamtumfeld. Wir brauchten etwas, was diesen Zeitraum begleitet, vereint und uns mit den Fans gemeinsam die Möglichkeit gab, nach vorne zu schauen. Das war die Kampagne «Auf jetzt». Der damalige Trainer Niko Kovac unterstützte uns redlich und hatte den verbindenden Charakter verstanden. Die Idee des Claims und weitreichende Formen der Umsetzung kam direkt aus der Fanszene. Es war also keine klassische PR sondern ein Gemeinschaftsprojekt. Ich glaube, das hat dem Klub sehr geholfen zusammenzufinden.

ZOE: Was macht so eine Geschichte glaubhaft für Fans?

Strasheim: «Auf Jetzt!» ruft man als Fan, wenn man einen Impuls erhofft, einen Schub geben will. Es kommt von den Menschen und übersetzt man es, passt es wieder zur «Diva»: «Kommt schon, ihr könnt es doch.» Das Sentiment hinter dem Ausdruck kommt ursprünglich aus der Fanszene und musste nicht erst glaubhaft gemacht werden. Das Team hat damals den Klassenerhalt geschafft und das «Auf jetzt!» ist als Erfolgskampagne im Gedächtnis geblieben. Es war der Auftakt einer erfolgreichen Gesamtkommunikation bei Eintracht Frankfurt und hat natürlich, ob bewusst oder nicht, zur Schärfung des Markenbildes beigetragen. Auch zu Beginn der Pandemie hatte «Auf Jetzt!» sehr gut gepasst zur Stärkung des sozialen Miteinanders und wichtiger sozialer Institutionen. Wir haben damit die Tafeln, die Arche, das Uniklinikum Frankfurt, die Diakonie oder das Rote Kreuz gemeinsam mit Fans unterstützt und sind dem gesamtgesellschaftlichen Auftrag des Vereins nachgekommen.

ZOE: Wie wichtig ist der partizipative Austausch mit den Fans, um Geschichten Leben einzuhauchen?

Strasheim: Enorm wichtig. Die Auf jetzt!-Kampagne war nur erfolgreich, weil sie aus der Fan-Szene kam. Wir hatten zuerst die Idee, eine Agentur mit einer Kampagne zu beauftragen, haben dann aber schnell gemerkt, dass das nichts wäre, was die Leute fesselt oder bindet, weil es nicht authentisch ist. Es war wichtig, dass der Haupt-Input aus der Fan-Szene kommt. Das zeigt auch der Gegenwind, den wir bekommen haben, als wir nach der Pandemie kurzzeitig mit Influencern zusammengearbeitet haben. Wir wussten damals nicht, ob die Stadien jemals wieder ausverkauft werden würden und haben dementsprechend im Rahmen eines Europa-League-Spiels, das noch unter Teilausschluss stattgefunden hat, einen kommunikativen Zugang zu jüngeren Zielgruppen versucht über diese Influencer zu erschließen. Dafür haben wir von den Fans ganz schön auf die Mütze bekommen. Das meiste, was in den vergangenen Jahren bei Eintracht Frankfurt in Sachen Medienarbeit erfolgreich geschehen ist, ist Hand in Hand mit der Fan-Szene – ja sogar größtenteils aus der Fan-Szene heraus – geboren und entwickelt worden.

ZOE: Was können andere Organisationen vom Profisport in Sachen Krisenkommunikation lernen?

Strasheim: Wenn man so will, findet im Profifußball jeden Tag Krisenkommunikation statt. Es gibt wahrscheinlich keine Organisation in Deutschland, die so stark im Rampenlicht steht und aus der – egal was passiert – alles sofort an die Öffentlichkeit dringt. Wichtig ist, Krisensituationen zu antizipieren, indem man sie mit Erfahrungswerten abgleicht und verschiedene Szenarien und deren kommunikativen Umgang in der Tasche hat, bevor sie überhaupt stattfinden. Und es braucht gutes Teamwork und klare Kommunikationswege innerhalb der Organisation. Ohne eine reibungslose interne Kommunikation gelingt auch eine gute Kommunikation in der Öffentlichkeit nicht. Das ist unter Druck nicht immer leicht und erfordert viel Verständnis von allen Beteiligten.

ZOE: Im Bereich des Profifußballs ist Ihre Organisation Vorreiter in Sachen Owned Platform Kommunikation. Sie nutzen zur Gestaltung Ihrer Narrative hauptsächlich Ihre eigene Website und Ihren eigenen Web-TV-Sender, für den Sie Reportagen, Interviews und Hintergrundberichte produzieren. Wie gelang es Ihnen, aus einer Sportorganisation heraus ein Medienunternehmen zu schaffen?

Strasheim: Startschuss war die besagte Kampagne 2016. Es gab daraufhin den Auftrag, die Medienarbeit des Vereins vollständig zu verändern. Wir waren damals eine Presseabteilung von fünf Personen und waren nicht dafür aufgestellt, Profifußball auf höchstem Niveau medial zu gestalten. Zunächst haben wir uns als Ziel gesetzt, den Verein sauber darzustellen. Wir haben neue Formate und Kanäle entwickelt und unglaublich viel ausprobieren dürfen in dieser ersten Phase. Wir kamen so ein bisschen als Underdog und konnten deshalb Dinge in einer Weise tun, wie sie sich gestandene Klubs sicher nie hätten erlauben können, weil sie immer kritischer beäugt worden wären. Mit dem DFB-Pokalsieg 2018 haben wir dann den Flow in das Wachstum der Organisation mitgenommen.

ZOE: Ein Plädoyer dafür, Kommunikation auch immer Hand in Hand mit dem Wachstum der Organisation zu entwickeln?

Strasheim: Die Kommunikation ist bei Sportclubs neben dem eigentlichen Sport mit das Wichtigste, weil man so viele Themen steuern kann und auch muss. Sie ist markenprägend und markenbildend. Aus meiner Sicht geht dies nicht anders.

«Ohne eine reibungslose interne Kommunikation gelingt auch eine gute Kommunikation in der Öffentlichkeit nicht.»

ZOE: Neben den Fans sorgen im Profifußball auch immer wieder Spieler für Negativschlagzeilen. Bei der Eintracht war bis zu seinem Karriereende im vergangenen Jahr «Hinti», also Martin Hinteregger, eine solch schillernde Figur. Ein erstklassiger Abwehrchef, der aber mit Party-Exzessen, Spielsucht und Kontakten zu einem rechtspopulistischen FPÖ-Mann für Aufsehen sorgte. Wie fängt man eine solche kommunikative «loose cannon» in den eigenen Reihen ein?

Strasheim: Ganz und gar auffangen kann man so etwas nie. Und vielleicht muss man das auch gar nicht. Auf der einen Seite wird zwar erwartet, dass Fußballprofis top-professionell auftreten, sich dem Sport unterordnen und funktionieren, auf der anderen Seite aber wünscht sich die Öffentlichkeit den kernigen Kumpel von nebenan auf dem Platz. Martin Hinteregger ist es einige Jahre sehr gut gelungen, beides zu vereinen und damit zu einer echten Identifikationsfigur zu werden. Solange es eine Mannschaft mitträgt, dass einer aus der Reihe tanzt, ist das okay und er war mit seinen Ecken und Kanten auch jemand, der gut zu dem «unperfekten» Image von Eintracht Frankfurt gepasst hat. In einem gewissen Rahmen gibt so etwas dem Klub Profil. Aber es gab einen Punkt, an dem es schwierig wurde, die öffentliche Meinung und auch der Rückhalt der Medien gekippt ist, und ich schätze es persönlich sehr, dass Martin für sich die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat.

ZOE: Ihre Organisation hat klare Werte, die immer wieder in Narrativen verankert werden. Bis hin dazu, dass in Paragraf 2 der Satzung des Vereins festgehalten ist, dass die Vereinsfarben nicht etwa Schwarz-Weiß-Rot sind, sondern Rot-Schwarz-Weiß – um sich von der Reichsfahne zu distanzieren. Wie wichtig ist es, unternehmenseigene Werte immer wieder aktiv in Geschichten umzusetzen?

Strasheim: Natürlich geht es darum, immer wieder auf die eigene Historie aufmerksam zu machen. Das Hervorheben der Tradition – aber auch die Schicksale in der Nazi-Zeit und die daraus entstandene Haltung des Klubs muss belegbar und erlebbar gemacht werden. Das Narrativ wird von vielen Menschen im Klub – aber vor allem von den Fans – entwickelt und gelebt. Mit dem Eintracht Museum haben wir zudem eine Institution, die Fahrten nach Dachau anbietet oder den KZ-Überlebenden Helmut «Sonny» Sonneberg begleitet und seine Geschichte erzählt. Das ist ungemein wichtig, weil man nicht nur darüber spricht sondern auch handelt.

ZOE: Lassen Sie uns ein wenig über Transformationsgeschichten sprechen. Vergangenes Jahr hat in Frankfurt der Umbau Ihres Stadions begonnen, das um 10.000 Stehplätze erweitert werden soll – bei laufendem Betrieb. Dafür müssen erst einmal Sitzreihen abgebaut werden, Dauerkartenbesitzer verlieren ihre angestammten Plätze: Wie haben Sie die Kommunikation zu dieser spürbaren Veränderung gestaltet?

Strasheim: Das Projekt wurde bereits vor vier Jahren öffentlich aufgegriffen und erklärt warum dieser Umbau notwendig ist. Unser Ansatz war ein inklusiver: Junge Menschen, die als Kind mit dem Vater ins Stadion gegangen sind, sollten die Möglichkeit haben, sich auch als Studierende oder Auszubildende einen Stadionbesuch leisten zu können. Dafür ist es nötig, neben den Logen und Business-Seats auch genügend Stehplätze anzubieten. Die persönliche Fan-Biografie kann vom Kind, über den jungen Menschen mit schmalem Budget bis hin zum Dauerkartenbesitzer mit Sitzplatz oder sogar zum Logen-Mieter gehen.Wenn man sagt, dass Fußball für alle da ist, dann ist es wichtig, dies auch zu leben.

ZOE: Das Stadion als Abbild des persönlichen Lebenswegs…

Strasheim: Das ist genau der Punkt. Einer unserer wesentlichen Erfolge ist, dass sich der Verein in den letzten Jahren für viele zu einem Lebensmittelpunkt entwickelt hat. Es gibt in der Gesellschaft nicht mehr viele solcher Orte, an denen Austausch zwischen Menschen unterschiedlichster Prägung stattfindet. Dieses Vereinende ist eine große Kraft des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen.

ZOE: Was macht für Sie eine gute Veränderungsgeschichte aus?

Strasheim: Das Wichtigste ist, dass die Veränderung authentisch und glaubhaft ist. Die Organisation muss, egal wohin sie sich entwickelt, im Kern bei sich bleiben. Und wenn man von etwas überzeugt ist, muss man es auch durchziehen – bis zur letzten Konsequenz. Wir müssen stetig, durch die Transferfenster im Halbjahresrhythmus, Veränderung kommunizieren und gleichzeitig vermitteln, dass wir bei all dieser Veränderung immer Eintracht Frankfurt bleiben. Das ist immer wieder spannend.

 

Jan Martin Strasheim
Bereichsleiter Medien und Kommunikation, Eintracht Frankfurt Fußball AG

Anne Meyer-Minnemann
Geschäftsführende Gesellschafterin, Kessel & Kessel GmbH

 


Geronnene Erfahrung

Geschichten als Grundlage der Unternehmenskultur

Seit über 25 Jahren forschen, publizieren und beraten Christine Erlach und Michael Müller zum Thema Storytelling. Wir haben mit ihnen über die Bedeutung von Geschichten für die Organisationsentwicklung gesprochen. Und darüber, wie wir alle in Organisationen hineinerzählt werden.

ZOE: Erzählt uns bitte mal eine Geschichte, die Eure Arbeit gut illustriert.

Müller: Ein Auftraggeber kommt und sagt, wir planen einen Change und wir haben das Gefühl, die Leute wollen da nicht mitgehen. Der Auftrag: «Entwickeln Sie doch mal eine Story, um dieses Mindset zu ändern». Das ist ein ganz typischer Anlass in unserer Arbeit. Nur: Mit einer Story allein kann man kein Mindset ändern. Ganz abgesehen davon, dass wir gar nicht wissen, ob die Beteiligten wirklich das falsche Mindset haben. Durch narrative Interviews hat sich in diesem Fall herausgestellt, dass das Mindset eigentlich völlig in Ordnung war, die Mitarbeitenden aber nicht einverstanden mit dem Weg des Wandels waren.

Erlach: Oder diese: Wir hatten ein Gespräch mit einem Auftraggeber, der aus zwei Organisationen eine gemeinsame machen muss, weil ein Teil der Organisation zunächst herausgelöst werden sollte, diese Neugründung jedoch gescheitert ist. Eine schwierige Ausgangssituation. Jetzt geht es darum, die Menschen wieder in die alte Kultur der Mutterorganisation zurückzubringen. Mit Widerständen und allem, was dazu gehört. Wir haben vorgeschlagen, narrative Interviews zu führen, um erstmal ein Gefühl für die Organisation zu bekommen: Was für Werte und Haltungen aus der alten Kultur sind lebbar für die Gruppe von Leuten, die eigentlich rausgegangen wären? Und welche Haltungen und Vereinbarungen von der neuen – nun verlorenen – Kultur könnten der alten Kultur nutzen? Wie oft haben wir auch hier mit dem Auftraggeber über die Anzahl dieser Interviews gesprochen. Wir haben sechs bis sieben vorgeschlagen – in weiteren Interviews bekommt man immer wieder ähnliche Erlebnisse erzählt, die auf gewisse Grundhaltungen und Grundüberzeugungen einzahlen. Der Auftraggeber wollte aber 15 Interviews, weil es repräsentativ sein sollte. Repräsentativität ist aber gar nicht unser Ziel oder unser Anspruch. Diese Dialektik, dass wir nicht repräsentativ arbeiten wollen und müssen, aber uns trotzdem in einer Welt bewegen, in der Quantität für Belegbarkeit von Ergebnissen steht, ist typisch für unsere Arbeit.

ZOE: Wie geht Ihr mit dieser Dialektik um?

Müller: Bezüglich der Repräsentativität geben wir zunächst den wissenschaftlichen Hintergrund, also wie qualitative Forschung funktioniert, erklären Validität, sozialwissenschaftliche Theorie, Grounded Theory etc. Häufig führen wir allerdings trotzdem mehr Interviews als wir eigentlich für die Wissensgewinnung bräuchten, damit sich der Kunde wohlfühlt. Das klingt ein bisschen seltsam, ist aber nicht so gemeint. Denn oft ist ja die Interviewphase schon selbst eine wichtige Intervention.

Erlach: Genau, in dieser ersten Phase wird schon eine neue Erfahrung gesetzt: dass man eine Stunde hat, in der keine Frage gestellt wird, sondern wirklich nur erzählt und zugehört wird. Tatsächlich kommt im Idealfall nur eine einzige Frage von uns zu Beginn: «Erzählen Sie doch mal vom ersten Tag an». Das kennen die meisten Menschen so nicht. Also führen wir oft mehr Interviews als notwendig, um mehr Menschen am Prozess teilhaben zu lassen.

ZOE: Was definiert für Euch ein narratives Unternehmen?

Müller: Man könnte sagen, alle Organisationen sind narrativ. Weil wesentliche Bereiche jeder Organisation durch Narrative und Geschichten bestimmt sind. Identitäten sind narrativ konstruiert, Werte sind narrativ konstruiert. Das wissen die Organisationen bloß meistens nicht. Erfahrungswissen, wie es Christine in ihren Prozessen hebt, ist immer narrativ konstruiert.

Erlach: Wir gehen von der Grundannahme aus, dass Unternehmenskultur die Summe aller Erzählungen ist, die über ein Unternehmen intern oder extern erzählt werden. Das heißt, man kann qua Definition nicht festlegen, was die Kultur ist. Auch wenn es mit jeder sogenannten «Mission» und «Vision» versucht wird. Sie ist die Summe aller Erfahrungen. Und Erzählungen sind Erfahrungen, die miteinander geteilt werden.  Das ist das Identitätsstiftende an den Erzählungen. Diese sich selbst erzählenden Geschichten muss man unterscheiden von solchen, die konstruiert oder gemeinsam gestaltet werden. Die speisen sich im Idealfall aus diesen geteilten Erfahrungen, wirken aber leider oft genug abgekoppelt und designt, und dann entfalten sie ihre Wirkung nicht. Das ist jedenfalls unsere Erfahrung mit dem Storytelling im gestalterischen Sinne.

Müller: Als wir vor 25 Jahren angefangen haben mit diesen narrativen Interviews, waren wir selbst überrascht, dass es offenbar immer ein übergeordnetes Organisationsnarrativ gibt, das sich durch alle individuellen Erzählungen aus einem Unternehmen zieht. Im Mittelpunkt dieses Narrativs steht eine bestimmte Transformation. Man merkt das immer daran, wo die Leute anfangen, von früher und von heute zu erzählen. Manchmal ist das ein Reorganisationsprojekt, manchmal ein Merger, manchmal ist es ein Börsengang, manchmal ist es auch nur der Verkauf einer technischen Anlage, die den Mitarbeitenden sehr am Herzen gelegen hat.

ZOE: Also ein roter Faden?

Müller: Ein roter Faden. Und in einigen Jahren wäre das wieder ein anderer, wenn man mit dem gleichen Mitarbeitenden nochmal reden würde. Weil sich wieder etwas verändert hat. So dass nicht nur kumulativ, sondern auch strukturell eine ganz andere Geschichte erzählt wird.

ZOE: Verändern solche Geschichten auch die Ereignisse?

Müller: Eine wichtige Prämisse für uns ist, dass das Erzählen immer von der Gegenwart ausgeht: Wir rekonstruieren, wie wir geworden sind, was wir heute sind. In der Anfangszeit der «Oral History» gab es eine größere wissenschaftliche Auseinandersetzung, ob Erzähl-Interviews wirklich die Vergangenheit abbilden können oder nur die Interpretation der Vergangenheit durch die Gegenwart. Ich glaube, sie leisten eindeutig letzteres.

ZOE: Das ist die konstruktivistische Perspektive im besten Sinne. Wir schauen nochmal ein bisschen tiefer in die Frage der Verhaltensrelevanz und Wirksamkeit von Geschichten. Eine Geschichte, die ich selbst erzähle und die für mich wahrhaftig ist, bestimmt, wie ich mich verhalte, nicht wahr?

Erlach: Absolut, ja. Die Geschichten, die ein soziales System definieren, beinhalten immer auch Verhaltensweisen, die belohnt oder geahndet werden. Als neuer Mitarbeitender lernt man in der Kaffeeküche mehr über Dos and Don’ts und die eigene Anschlussfähigkeit ans System als aus jedem ausgeteilten Knigge. Das zeigt sich auch in der Enkulturation. Wir selbst werden ja auch hineinerzählt in die Kultur, in unsere Gesellschaft.

ZOE: Wir werden hineinerzählt. Ein wunderbarer Begriff. Die Geschichte steht also da als eine Art Kondensat dieses Wissens. Du hast mal geschrieben, Geschichten sind der Stoff, aus dem die Organisationen sind.

Müller: Die eigentliche Identität wird bestimmt durch die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen als Organisation, und durch die Geschichten, die andere über uns erzählen. Das weiß man auch aus der psychologischen Identitätsforschung: Man hat die eigene Identität nie ganz in der Hand, weil die Erzählungen der anderen genauso wichtig sind. Und natürlich werden wir auch in Geschichten hineingeboren. Der Stoff, aus dem Organisationen gemacht sind, diese Identität, das ist die Menge aller Geschichten, die erzählt werden. Natürlich gibt es auch Organigramme und Flussdiagramme, aber die bilden im Idealfall nur das ab, was die narrative Konstruktion der Identität vorgegeben hat.

Erlach: Ich gebe ein Beispiel aus der Unternehmenskultur, um das zu verdeutlichen: Viele Organisationen setzen sehr auf ihre Werte: Wir sind kundenorientiert, wir sind agil, wir sind offen für Diversität, was auch immer. Schlagworte, die in aller Regel überhaupt nicht hinterfragt werden. Und die dann doch irgendwie in Ziele umgesetzt werden, rein kognitiv, linear. Wenn wir aber narrativ die Erfahrungen heben, uns also von Situationen aus dem Organisationsalltag erzählen lassen, können wir sehen, dass es zu einem semantischen Feld wie z. B. Kundenorientierung oder Agilität ganz verschiedene Auslegungen gibt. Ich kann solche Worthülsen anreichern mit Authentizität, mit echten Erfahrungen. Das ist das, was wir mit narrativ konstruiert meinen; mit dem Stoff, aus dem Organisationen sind. Die kognitive Worthülse ist nicht lebendig, aber die darunterliegende authentische Erfahrungsebene der Erzählungen kann den Wert für Menschen anschlussfähig machen. Bei Leitbildprozessen ist das ausgesprochen wichtig. Wir haben mal bei einem großen Unternehmen einen Story-Circle gemacht (siehe Kasten), in dem Kundenerlebnisse zunächst erzählt und dann in einem zweiten Schritt den Leitbildsätzen zugeordnet wurden. Und plötzlich war den Mitarbeitenden klar: Das Leitbild ist gar nicht aus der Luft gegriffen, wir erleben die Arbeit tatsächlich so.

ZOE: Warum wird bestimmtes Wissen in Organisationen leicht gespeichert, anderes wiederum ist kaum in Geschichten abbildbar? Der oftmals verzweifelte Versuch von Geschäftsführung und Vorständen, Narrative zu setzen, scheitert ja häufig genau daran.

Müller: Entscheidend ist, ob es Erfahrungen gibt, an die solche Narrative andocken können. Je weiter sie davon entfernt sind, umso schwerer wird es. Das gleiche kann man auch in der Politik sehen. Politiker*innen glauben immer, das beste Argument gewinnt. In Wirklichkeit gewinnt das beste Narrativ; dasjenige, das andocken kann an die Erfahrungen der Bürger und Bürgerinnen.

Erlach: Menschen erzählen auch die Zukunft aus der Gegenwart heraus. Solche aufgesetzten Narrative aus der Führungsebene beginnen allerdings oft nicht in der Gegenwart. Sie gehen direkt in die Vision, in die Zukunft, und malen ein Soll-Bild der Organisation, das viel zu weit weg von der erlebten und konstruierten Gegenwart ist. Das macht diese Geschichten nicht anschlussfähig.

ZOE: Wie funktionieren denn gute Geschichten im Wandel?

Müller: Vor einem Wandel muss ich die Gegenwart der Mitarbeitenden kennen. Sonst kann ich sie nicht in die Zukunft mitnehmen. Um ihre Interpretation der Gegenwart zu kennen, auch das verborgene Wissen, die verborgenen Glaubenssätze, brauche ich Geschichten, die erzählen, wie wir geworden sind was wir heute sind. Es sind also zwei Ebenen: einerseits die Erzählungen in die Zukunft hinein und andererseits die Schleife in die Vergangenheit, um dieses verborgene Wissen zu heben.

ZOE: Warum kann eine Organisationsentwicklung ohne diese impliziten, in Geschichten gespeicherten Wissensanteile nicht funktionieren?

Müller: In den allermeisten Fällen kann es nicht funktionieren, weil verborgene Hemmschwellen in den Mindsets der Mitarbeitenden existieren. Ich kann da ein Beispiel erzählen von einem Unternehmen, das ein Change-Projekt gemacht und festgestellt hat, dass die Mitarbeitenden nicht motivierbar waren, weder durch Belohnungen noch durch Druck. In den narrativen Interviews haben wir herausgefunden, dass etliche Male erlebt wurde, wie solche Projekte nicht zu Ende gebracht wurden. Die feste Überzeugung aus diesen Erfahrungen war: Es ist vergebene Liebesmüh, sich da zu engagieren, es wird sowieso nichts. Wenn man diesen Mindset nicht kennt, wird man immer scheitern mit so einem Projekt. Man muss stattdessen versuchen, diese Prägung zu ändern.

ZOE: Was meint Ihr, wenn Ihr von narrativ intelligenten Organisationen sprecht?

Erlach: Wir haben eine Unterscheidung im Wording eingeführt von narrativer Organisation und narrativ intelligenter Organisation. Letzteres ist ein Unternehmen, das sich seiner narrativen Strukturen bewusst ist. Im Kern sind tatsächlich alle Dimensionen Dimensionen wie Werte, Sinn, Identität, Wissen, also Erfahrungswissen, narrativ konstruiert. Ob sie dies nutzbar machen für ihre Strategie und Prozesse, macht dann die narrative Intelligenz.

ZOE: Wie also kann sich eine Organisation diese Narrative nutzbar machen?

Erlach: Zum Beispiel durch Storylistening, dem Gegengewicht zu dem allgegenwärtigen Storytelling. Es bedeutet, dass man dezidiert Erzählräume schafft, in denen die Menschen einander zuhören, Erfahrungen teilen und abgleichen können. So könnte die Entwicklung zu einer narrativ-intelligenten Organisation beginnen, mit Storylistening in Jour Fixes zum Beispiel. Das ist eine Kleinigkeit, aber es macht einen großen Unterschied. Oder auch durch Story-Co-Creation sowie Storydoing, um alle vier Methodenfelder zu nennen. Storydoing ist nichts Neues; es bedeutet, die Rahmenbedingungen im Change so zu gestalten, dass neue Erfahrungen gemacht werden können, die dann den Geschichtskorpus wieder verändern.

ZOE: In manchen Organisationen herrscht ein dominantes Narrativ, das geprägt ist durch Aussichtslosigkeit. Wenn ich als Geschäftsführer so eine Organisation oder Abteilung übernehme, ist meine Aufgabe, diese Erzählung möglichst schnell in eine zu verändern, in der Zuversicht und Hoffnung eine Rolle spielt. Kann ich solche Narrative verändern?

Erlach: Nur durch neue Erfahrungen. Es gibt keinen anderen Weg. Man muss neue Erfahrungen möglich machen, die dann erzählt werden. Die geteilt werden und wirken können. Durch die neuen Erfahrungen ändert man den Geschichtskorpus. Und über diese Änderung können dominante Narrative ausgehebelt werden.

ZOE: Aber wird diese neue Erfahrung nicht sofort ins dominante Narrativ eingeordnet, interpretiert? So nach dem Motto: Das ist doch wieder nur so ein Trick…?

Müller: Es funktioniert natürlich nur bei echter Teilhabe an der neuen Erfahrung. Vielleicht ein Beispiel: Bei einem Change-Prozess gab es einen Konflikt zwischen Wechselschicht- und Tagschicht-Mitarbeitenden. Wir haben eine Serie von Workshops gemacht, in denen sie sich gegenseitig ihre Erfahrungen erzählt haben. Plötzlich gab es dann die Erkenntnis: Blöd sind die jeweils anderen ja gar nicht, man kann mit denen vernünftig reden. Das klingt banal, aber allein durch den Austausch von Geschichten hat sich die Kultur verbessert. Es ist jetzt möglich, auch über Konfliktäres miteinander zu sprechen. Das war ein Prozess von mehr als einem Jahr, und diese Zeit sollte man sich auch nehmen.

«Wesentliche Bereiche jeder Organisation sind durch Narrative und Geschichten bestimmt.»

ZOE: Gibt es Mechanismen, die das Entwickeln eines Narrativs beschleunigen?

Erlach: Das wäre die Story-Co-Creation, das vierte Methodenfeld. Damit sind ernstgemeinte partizipative Prozesse gemeint. Zum Beispiel, indem man nach Erlebnissen fragt, die auf eine Vision oder auf das Ziel der Veränderung einspielen. Diese Erfahrung muss man dann wirklich nutzen, um den Weg gemeinsam zu planen. Eine andere Facette ist die Arbeit mit Metaphern und anderen narrativen Ansätzen wie zum Beispiel der Heldenreise etc. Da ist so viel Repertoire vorhanden, das hilft unglaublich, Leute in einem Change-Prozess an Bord zu holen – weil es verspielter ist, kreativer, weil es sich vertraut anfühlt, mit Geschichten zu arbeiten.

Müller: Viele Führungskräfte tun sich schwer, Steuerung aus der Hand zu geben. Da wird dann erst der Change definiert und anschließend versucht, die anderen reinzuholen, anstatt auf Basis der Geschichten der Mitarbeitenden gemeinsam eine Zukunftsstory zu entwickeln, zum Beispiel über Story Circles, in denen wichtige, lehrreiche oder faszinierende Geschichten wie durch ein umgekehrtes Schneeballprinzip von unten nach oben gereicht werden.

ZOE: Organisationen haben aber in der Regel nicht nur ein dominantes Narrativ, sondern multiple Narrative, die auch konträr sein können?

Erlach: Tatsächlich ja, denn sie beinhalten auch unterschiedliche identitätsstiftende Räume: Ein Team kann sich anders erzählen als eine Abteilung. Eine Abteilung erzählt sich anders als eine Organisation. Alle Untergruppen speisen und aggregieren dann ein Organisationsnarrativ.

ZOE: Warum spielen Geschichten eigentlich in der Organisationspraxis so gut wie keine Rolle? Warum ist Eure Arbeit noch immer derartig pionierhaft?

Müller: Einen Narrative Turn gab es in der Psychologie bereits in den achtziger Jahren. Das hat bloß bisher keinen Platz im gängigen Paradigma von ökonomischem und organisationalem Denken gehabt. Da wird eher operativ und in Zielarchitekturen gedacht. Das verändert sich aber. Als wir 2000 mit narrativen Change-Projekten begannen, mussten wir noch sehr viel mehr Widerstände überwinden als heute. Immer mehr Unternehmen leuchtet es eigentlich ein, so zu arbeiten.

Erlach: Das narrative Arbeiten stellt viele Identitäten in Frage. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Dimensionen Identität, Sinn oder Werte nicht steuerbar sind durch einzelne Führungskräfte, sondern durch die Narrative der Gemeinschaft, pikst man in Systembedingungen rein, die sich nicht selber wegorganisieren wollen. Da gibt es große Widerstände aus dem System heraus. Das Mindset «Führen heißt Zuhören» ist in der Ausbildung ja überhaupt nicht vorgesehen.

ZOE: Ist die Betriebswirtschaft diesbezüglich nicht auch im besten Sinne noch immer eine Kontroll- und Steuerungswissenschaft, während der Umgang mit Narrativen immer auch mit einem Loslassen zu tun hat?

Müller: Die große Frage ist, in welchem Maße Kontrolle überhaupt möglich ist in komplexen sozialen Systemen. Kahneman nennt das ja auch die Kontrollillusion. In meiner Rolle als Facilitator, als Führungskraft, kann ich ein Stück weit Kontrolle ausüben, indem ich gemeinsame Prozesse initiiere, aber ich kann nicht allein bestimmen, was dabei rauskommt. Das macht natürlich Angst.

Erlach: …und dann kommen Lösungen wie Agil, Scrum oder so, die ebenfalls eine sehr kognitive, planerische Welt auf dieses komplexe, unvorhersehbare Wesen Organisation legen. Und dann auch möglicherweise scheitern, weil sie nichts in der Grundgrammatik verändern. Das narrative Arbeiten erkennt hingegen an, dass man nicht vollständig planen kann, wie es weitergeht.

Müller: Wir sollten von der Zielorientierung zur Wegorientierung kommen. Ziele sind wichtig, damit ich Wege auswählen kann. Aber wenn ich den Weg gehe, können sich die Ziele verändern. Diese Offenheit zu haben, ist in einer narrativ intelligenten Organisation wichtig. Nicht mit Zähnen und Klauen an den Zielen festhalten, und alle Incentives und Boni an dieser Zielerfüllung ausrichten. Das, denke ich, wäre ein falsches Vorgehen, weil dann auch Ziele, die sich als dysfunktional erweisen, nicht mehr oder nur schwer revidierbar sind.

ZOE: In Eurem Buch «Narrative Organisationen» heißt es, dass die vollständige Kontrolle der Organisation über die eigene Identität nicht möglich ist. Weil neben dem eigenen Narrativ das Fremdnarrativ, aber auch das Kontextnarrativ am Wirken sind. Ist das nicht für Organisationsentwicklung ausgesprochen frustrierend?

Müller: Klar ist es frustrierend, weil es sie schwieriger macht. Die Identität von VW ist auch mitbestimmt über die Presseberichte und die Storys über den Dieselskandal. Oder die Ergo-Skandalgeschichte vor ein paar Jahren mit den Bordellen in Budapest, in die verdiente Mitarbeitende eingeladen wurden. Das sind alles Dinge, die haften gewissermaßen in der Kleidung wie ein schlechter Geruch. Das Bestreben kann eigentlich nur sein, die eigenen Erzählungen so zu gestalten, dass externe Erzählungen daran anschlussfähig sind und übernommen werden können. Ein frühes positives Beispiel von VW war der VW-Käfer, «der  läuft und läuft und läuft…». Da haben die Leute Geschichten erzählt, dass man Damenstrümpfe als Keilriemen und Bananenbrei als Schmieröl verwenden kann, und das Auto laufe trotzdem immer weiter. Narrative können also eine Chance sein, Räume zu schaffen für die Erlebnisse der Kunden und Kundinnen, in denen sie gewünschte Erfahrungen machen und dann gewünschte Erzählungen entwickeln. Man muss sich nur bewusst sein, dass man immer an dem Schnittpunkt zwischen Innen und Außen arbeitet und keine vollständige Kontrolle hat.

Erlach: Wenn ich an den Behaviorismus denke, dann kommen wir aus einer Zeit, in der wir die Illusion hatten, dass man mit gutem Planen, mit guten Zielen, mit guten Milestones die Zukunft relativ kontrollierbar oder zumindest vorhersehbar machen kann. Heute bekommen wir dauernd um die Ohren gehauen, dass das überhaupt nicht so ist. Der Abgesang der Planbarkeit geht einher mit einer gewissen Demut vor den Grenzen des Gestaltbaren und schafft einen Möglichkeitsraum für das narrative Arbeiten. Es gibt eine Sehnsucht nach Narrativen, die uns als Gesellschaft wieder neue Sinn- und Orientierungsstrukturen geben.

ZOE: Was erzählt sich unsere Gesellschaft gegenwärtig selbst für eine Geschichte?

Müller: Eigentlich eine Geschichte von einem drohenden Ende des westlichen Narrativs oder des europäischen Narrativs als dominante Kultur. Als Westen sind wir in die Falle geraten, dass wir alle Werte, die sich aus der Aufklärung entwickelt haben, nur universell denken können. Gleichzeitig erleben wir aber, dass andere wenig oder gar kein Interesse haben, diese vermeintlich universellen Werte zu übernehmen. Wir sind in einer Aporie gelandet und wissen nicht damit umzugehen. Ich denke, auf ökologischer und politischer Ebene wird es in den nächsten zwei Jahrzehnten ganz große Umwälzungen geben, wenngleich ich nicht zu sagen vermag, in welche Richtung.

ZOE: Also eine ziemlich dystopische Geschichte?

Erlach: Also zumindest die der westlichen Welt. Woanders gibt es ganz andere Narrationen, die eher vom Aufbruch erzählen. Unsere Industrievorherrschaft nimmt ab, es werden woanders Zentren entstehen. So war es immer schon. Die Etrusker gibt es ja auch nicht mehr.

Müller: Interessant ist, dass wir keine positiven Utopien mehr haben, sondern nur noch Dystopien oder Kampfgeschichten, wie diejenige gegen den Klimawandel. Aber wie wollen wir eigentlich leben als Gesellschaft? Das ist die Wunschvorstellung, auf die wir keine Antwort haben. Und da schließt sich der Bogen zu einer depressiven Organisation. In unserer Gesellschaft fehlt ebenfalls ein positives Zielbild, eine positive Sinnstiftung, wenn man es so übersetzen will.

ZOE: Ganz vielen Dank für das schöne Gespräch – was ruft Ihr unseren Lesern und Leserinnen noch zu?

Müller: Start listening! Machen Sie die Ohren auf für die Geschichten, die da sind, und nehmen Sie sie als Ausgangspunkt für Ihr Handeln.

Erlach: Je mehr ich dafür sorge, dass Erfahrungen als Währung Platz und Raum finden in den Kommunikations- und sonstigen Strukturen, desto mehr kann ich die Menschen mitnehmen in die Zukunft.

 

Jeder Wandel ist eine Geschichte

 

Warum sind Narrationen in Veränderungsprozessen so bedeutsam? Würden wir nur ein paar Zeilen für die Antwort haben, würde sie lauten: Zum einen, weil Narrationen den Betroffenen Orientierung geben, ihnen Sinnstiftung ermöglichen und das Erleben von einer Identität im Wandel, einer Dazugehörigkeit, vermitteln. Zum anderen, weil Wandel nur funktionieren kann, wenn das Neue, das kommen soll, in irgendeiner Weise an der gelebten momentanen Situation, der Gegenwart der Betroffenen, anknüpft – was nur gelingen kann, wenn man die Vergangenheit kennt, die zu dieser Gegenwart führte.
Narrationen, Geschichten oder Erzählungen – das Grundprinzip, wie Menschen sich die Welt erklären und sich selbst in ihr verorten, hat viele Namen. Wie auch immer wir das wohl wichtigste Kommunikationsmittel taufen, um sich und einander Orientierung zu geben: Fest steht, dass wir bedeutsame Erinnerungen in Form von Erzählungen abspeichern. Ein Erlebnis hat einen Anfang, eine Ausgangssituation; die Handlung entwickelt sich und verändert die Ausgangssituation, bis irgendwann ein Ende folgt. Damit sind wir mitten in der Basisdefinition von «Geschichte», die schon Aristoteles in seiner «Poetik» beschrieb. Wir Menschen ordnen unsere Erfahrungen und Erlebnisse entlang einer Zeitachse und konstruieren für uns selbst und andere im Erzählfluss eine Logik, eine Sinnhaftigkeit, die die einzelnen Erfahrungen aneinanderknüpft.

Dieses Bedürfnis nach Konsistenz des Erzählflusses erleben wir immer wieder, wenn wir in Organisationen narrative Interviews führen, um die Erfahrungen der Mitarbeiter*innen kennen zu lernen, wenn wir also ihren Erzählungen zuhören. Denn Erzählungen sind nicht mehr und nicht weniger als persönlich gemachte Erfahrungen. Erzählungen sind daher weder richtig noch falsch wie etwa Meinungen, oder Argumente für eine bestimmte Entscheidung oder Einschätzungen über eine mögliche Zukunft. Erfahrungen sind einfach da, sie existieren weder als falsch noch als richtig und werden als authentisch und real wahrgenommen. Dies erklärt einen Teil des enormen Potenzials, das Erzählungen im Wandel haben: Sie transportieren authentische Erfahrungen, die jemand in der Vergangenheit gemacht hat. Sammelt man viele Erzählungen verschiedener Beteiligter, können diese Geschichten die erlebte Gegenwart in einer Organisation erklären: Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Die Erzählungen der Organisationsmitglieder machen Werte, Glaubenssätze, Haltungen sichtbar, die als gelebte Unternehmenskultur das Verhalten beeinflussen. Unternehmenskultur ist mit dieser Perspektive die Summe aller Erzählungen (und damit Erfahrungen), die über die Organisation erzählt werden.

Was bedeutet das für den Wandel? Geschichten geben im Wandel Orientierung, denn sie ordnen die unendlich vielen Ereignisse, die eine Organisation ausmacht, in Sinnzusammenhänge. Sie beantworten, was in der Vergangenheit (Ausgangssituation) geschehen ist und zu der erlebten Gegenwart führte. In dieser Gegenwart nun steht ein Wandel an (Veränderung), der in eine Zukunft führt, die wir noch nicht kennen (Ende). Organisationaler Wandel ist daher immer schon eine Geschichte, weil er eine narrative Struktur in sich trägt: Aus dem Vergangenen folgt im Erlebnisstrom der Beteiligten eine Gegenwart, die in eine (ungewisse) Zukunft münden wird.

Nun herrscht in Unternehmen aber oft die Grundannahme, dass eine gewünschte Zukunft auch eintreten werde, wenn man sie nur gut genug plane und klar und bedeutsam genug kommuniziere. Ein solches «Management by Proclamation» lässt jedoch außer Acht, dass die Maßnahmen im Wandel immer an die Erfahrungen und Erlebnisse der Mitarbeiter*innen anschlussfähig sein müssen: Welche Geschichten darüber, wie das Unternehmen wurde, was es jetzt ist, erzählen sich die Beteiligten? Welche Erfahrungen haben die Mitarbeiter*innen in der Vergangenheit gemacht, in denen sie ihre Grundüberzeugungen gewonnen haben, wie die Organisation «tickt», welche Werte und Haltungen sie ausmachen? Will der Wandel gelingen, muss das Neue an das Alte anschlussfähig sein.
Ein kleines Beispiel: Uns wurden in narrativen Interviews viele Erfahrungen erzählt, dass in diesem Unternehmen Projekte nie zu Ende geführt werden. Nun sollte eine neue, agile Form der Kollaboration (Scrum) mittels mehrerer paralleler Projekte eingeführt werden und sich mit der Zeit ausbreiten und verstetigen. Was musste zwangsläufig passieren? Die Projekte würden scheitern, weil bisher alle Projekte gescheitert sind. Wandel erfolgreich zu gestalten heißt also, die Erfahrungswelten sehr genau zu erkunden, in denen die Mitarbeiter*innen sind. Alles, was an deren Erfahrungen anschlussfähig ist, hat eine Chance; alles, was ihnen widerspricht, hat keine Chance. Daher ist eine der zentralen Interventionen, das Zuhören und die Erzählungen in den Mittelpunkt zu stellen und so die Erfahrungen der Mitarbeiter*innen zu heben. Eine narrativ intelligente Organisation muss also Erzählräume schaffen, in denen die Mitarbeiter*innen ihre Erfahrungen teilen können, sie muss zuhören lernen. Dies kann zum Beispiel mit dem Story Circle geschehen, einer einfachen Storylistening-Methode, die Raum für multiperspektivisches Erzählungen schafft (siehe Methodenbeschreibung im Kasten).

Ist das schon alles – einfach Erzählräume schaffen? Nein, noch nicht alles, aber in den meisten Fällen die wichtigste Intervention, um Wandel anzustoßen. Doch was geschieht, wenn die Erfahrungswelten der Mitarbeiter*innen so ganz und gar nicht zu der positiven, gewünschten Zukunft passen, wenn wir es mit einer «depressiven Organisation» zu tun haben? Im Wesentlichen gilt trotzdem immer noch, dass nichts gelingen kann, was nicht anschlussfähig an die erlebte Gegenwart ist. Doch darüber hinaus wird besonders wichtig, jene Narrative, jene Glaubenssätze herauszuhören, die die Organisation daran hindern, sich zu wandeln, ihr zu ermöglichen, die «Depression» zu überwinden.

Dominante Narrative und Störnarrative hindern uns oft daran, die Zukunft neu zu erzählen und den Weg dorthin, den Wandel zuzulassen. Störnarrative sind Glaubenssätze von Individuen oder sozialen Systemen, die nicht mehr funktional sind, an denen man aber in Ermangelung von Alternativen festhält. Sie sind «festgefroren», wie etwa der lange überkommene Glaubenssatz, dass Frauen weniger leistungsfähig seien, weil sie wegen der Zusatzrolle «Mutter» eingeschränkt seien. Kann man solche Störnarrative aus den Erzählungen der Mitarbeiter*innen herauskondensieren, muss eine narrativ intelligente Organisation nach Wegen suchen, aus diesen festgefrorenen Mustern zu entkommen. Ein neues Buch, an dem wir gerade arbeiten und das Mitte 2024 erscheinen wird, stellt sich eben der Frage, wie man Störnarrative erkennen und sie verändern kann. Wir nennen den dazu notwendigen Prozess «in Aktanz gehen» und schließen in diesen Neologismus die Bedeutungswelten von «Resonanz», «Akzeptanz», «Aktanten», also die Figuren in Geschichten und die Akte im Theater, sowie «Tanz» ein. In Aktanz gehen ist ein Tanz in die Leichtigkeit und Wendigkeit, die entstehen, wenn wir es schaffen, uns von alten, überkommenen Störnarrativen zu lösen.

Christine Erlach
Dipl.-Psych., Gründerin Beraternetzwerk Narrata Consult, Wissenstransferbegleiterin, Organisationsentwicklerin, Lehrbeauftragte Hochschule der Medien Stuttgart (HdM)

Prof. Dr. Michael Müller
Professor für Medienanalyse und -konzeption, Leiter Institut für Angewandte Narrationsforschung IANA der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM)

Prof. Dr. Heiko Roehl
ZOE-Redakteur, Geschäftsführender Gesellschafter Kessel & Kessel GmbH

 

Literatur

Chlopczyk, J. & Erlach, C. (Eds.) (2019). Transforming Organizations – Narrative and Story-Based Approaches. Springer International Publishing: Springer Nature Switzerland AG.
Erlach, C. & Müller, M. (2022). Narrative Organisationsentwicklung. Ein Arbeitsbuch mit Fallbeispielen. Springer Gabler.
Erlach, C. & Müller, M. (2021). Zwischen den Zeilen. Narrative Ansätze für die Organisationsentwicklung. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2.
Erlach, C. & Müller, M. (2020). Narrative Organisationen. Wie die Arbeit mit Geschichten Unternehmen zukunftsfähig macht. Springer Gabler.
Erlach, C. (2013). Kapitel 5, Spezielle Wissenstransfermethoden: Transfer Stories. In: Erlach, C.; Orians, W. & Reisach, U. (2013). Wissenstransfer bei Fach- und Führungskräftewechsel – Erfahrungswissen erfassen und weitergeben. Hanser, 164-168.
Müller, M. (2020). Politisches Storytelling. Wie Politik aus Geschichten gemacht wird. Herbert von Halem Verlag.


Eindrücke statt Emissionen managen

Paradoxien im VW-Dieselskandal

Die Art und Weise, wie Organisationen oder deren Management mit Paradoxien, d. h. mit anhaltenden Widersprüchen zwischen voneinander abhängigen Anforderungen umgehen, wird oft glorifiziert. Wie der VW-Dieselskandal zeigt, haben paradoxe Versprechungen, wie z. B. die Lieferung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Autos, ihre Schattenseiten und können zu fragwürdigem oder gar kriminellem Verhalten führen. Dabei spielen widersprüchliche und voneinander abhängige Ziele, die gleichzeitig schwer zu erreichen sind, eine zentrale Rolle. Dieser Artikel versteht sich als Warnung, dass Organisationen und ihre Mitglieder manchmal ihre eigene Fähigkeit überschätzen, Paradoxien erfolgreich zu managen.

Gesellschaft und Organisationen verändern sich unter dem Druck neuer Technologien, Krisen und komplexer Umweltbedingungen, was paradoxe Herausforderungen mit sich bringt: kurzfristige und langfristige Ziele, soziale und wirtschaftliche Ziele, Wandel und Stabilität. Solche Paradoxien werden zunehmend zu einem integralen Merkmal von Organisationen und stellen eine Herausforderung für Management- und Organisationswissenschaftler*innen sowie -praktiker*innen dar. Organisationen, die sich nicht für ein Entweder-oder entscheiden, sondern einen Sowohl-als-auch-Ansatz im Umgang mit Paradoxien verfolgen, sind in der Regel innovativer, nachhaltiger und origineller. Allerdings können Paradoxien auch zu Dysfunktion und Dramen führen, insbesondere wenn sie zu weit gehen.

Die Aufnahme von Paradoxien als «Stretch Goals» oder ambitionierte Ziele kann zu höheren Leistungen anregen und die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich ziehen (Cunha et al. 2017). Stretch Goals sind praktisch unerreichbare oder scheinbar unmögliche Ziele, die wenn sie nicht erreicht werden, zu einem Gesichtsverlust für die Protagonisten führen. Wenn solche Stretch-Ziele nicht erreicht werden, geben Protagonisten bisweilen ihr Scheitern nicht zu, sondern betreiben lieber Impression Management. Die widersprüchlichen Ziele werden als erreicht dargestellt, während die eigentlichen Ursachen der Spannungen, die dem Paradox zugrunde liegen, in der Praxis nicht angegangen werden. So wird das Paradoxon durch Illusionen und Rhetorik «aufgelöst» und nur zum Schein bearbeitet: Es entsteht eine Differenz zwischen dem paradoxen Versprechen und der tatsächlichen Praxis.

Dies entspricht dem von Goffman (1959) beschriebenen Prozess des Impression Managements, bei dem Menschen versuchen, die Wahrnehmung einer Person, eines Objekts oder eines Ereignisses durch andere zu beeinflussen. Ähnlich lässt sich der Versuch einer Organisation beschreiben, eine gewünschte Identität zu gewährleisten. So vermittelte beispielsweise die Werbung von Volkswagen für schnelle, billige und umweltfreundliche Fahrzeuge nach außen hin einen Eindruck, der nicht der Realität entsprach. Die gleichzeitige Erfüllung der Anforderungen an Leistung, Effizienz und Emissionen ist paradox, da die Anforderungen widersprüchlich sind und sich gegenseitig bedingen. Ein höherer Wirkungsgrad des Dieselmotors geht mit höheren Emissionen einher. Ebenso bedeutet eine höhere Leistung ab einer bestimmten Geschwindigkeit eine geringere Kraftstoffeffizienz.

Das Paradoxon war für viele Elite-Autohersteller nicht leicht zu lösen und auch VW schaffte es nur verbal. Die Herstellung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Dieselmotors wurde durch den Einbau einer Abschalteinrichtung erreicht, die das Abgasreinigungssystem dann einschaltete, wenn die Fahrzeuge einer Abgasuntersuchung unterzogen wurden. Das paradoxe Stretch Goal, das sich als unerreichbar erwies, zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements. Diess versuchte, die tatsächliche Überforderung durch Impression Management zu kaschieren und wurde durch den von Angst und Einschüchterung geprägten Entscheidungskontext ermöglicht und aufrechterhalten.

Wenn Paradoxien, die zu weit gehen, auf der obersten Hierarchieebene festgelegt werden und ein Scheitern kostspielig ist, besteht eine Möglichkeit des Umgangs auf der unteren Ebene darin, die Illusion zu erwecken, das Paradox erfolgreich zu lösen, statt sich tatsächlich mit diesem zu befassen. Ein typischer Fall ist das sogenannte Greenwashing, bei dem eine schlechte Umweltleistung mit einer positiven Kommunikation über grüne Werte verbunden wird – auch wenn dabei der erweckte Eindruck und die Realität erheblich auseinanderklaffen. Diese Praxis wird von Goffman als Gesichtsarbeit (face-work) beschrieben, etwa wenn Organisationen behaupten, Ziele erreicht zu haben, die bemerkenswert erscheinen, während die Realität nicht mit dem Image übereinstimmt. Organisationen geben dann z. B. vor, Vorschriften einzuhalten zu denen sie verpflichtet sind, indem sie oberflächliche Aktivitäten durchführen, um Legitimität zu erlangen, während sie ihr Business as usual fortführen.

Im VW-Dieselskandal wurde durch die Werbung und Kommunikation des Unternehmens der Eindruck eines erfolgreichen Paradoxien-Managements erweckt. Die damit verbundenen Täuschungen wirkten auf verschiedenen Ebenen, führten zu unbeabsichtigten Dynamiken, zu sich verselbstständigenden Verbindungen zwischen Versprechen und Handlungen und endeten in einem Teufelskreis. Der VW-Skandal stellt ein Extrembeispiel dar, an dem sich das Verständnis für die Gefahren von Paradoxien weiterentwickeln und Implikationen für das Management von Paradoxien ableiten lassen. Dieser Beitrag stützt sich auf Daten aus einer Vielzahl von veröffentlichten Quellen, wichtigen Medien, Unternehmens-Pressemitteilungen sowie Kongressanhörungen.

Die Chronologie des Skandals

Der Skandal wurde im September 2015 bekannt, als die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) enthüllte, dass viele von VW in Amerika verkaufte Dieselfahrzeuge in ihren Motoren ein Gerät haben, das Labortests erkennen und Leistungsmessungen entsprechend verändern konnte. Nur mit dieser Vorrichtung war es möglich, die vorgeschriebenen Abgasnormen zu erfüllen. VW hat mittlerweile zugegeben, bei Abgastests in den USA betrogen zu haben.

Kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland steht wie VW als Symbol für die technische Leistungsfähigkeit des Landes. Anfang der 2000er Jahre setzte sich das Unternehmen das Ziel, der weltweit führende Automobilhersteller zu werden. Dazu gehörte schon früh, die zufriedensten Kunden und die zufriedensten Mitarbeitenden zu haben und gute Unternehmensergebnisse zu erzielen, um über Investitionen in die Zukunft die besten Autos zu bauen. Das Ziel, bis 2018 der weltweit führende Automobilhersteller zu sein (Strategie 2018), geht bereits auf Ferdinand Piëch, den Pionier des Dieselmotors im Pkw, und auf die 1990er Jahre zurück, als VW auf Wachstum um jeden Preis setzte.

«Das paradoxe Stretch Goal zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements.»

Bei seinen Bemühungen, den für VW so wichtigen US-Markt zu erobern, um der weltweit führende Automobilhersteller zu werden, setzte VW vor allem auf Dieselfahrzeuge. Während diese in Europa beliebt waren, waren Dieselfahrzeuge in den USA unüblich. Dabei sind Dieselmotoren sparsamer und effizienter als Ottomotoren, stoßen aber aus technischen Gründen größere Mengen an Stickoxiden (NOx) und Ruß aus. Hinzu kam im Jahr 1990 die Überarbeitung des Clean Air Act durch den US-Kongress. Dies bewirkte, dass alle in den USA verkauften Autos wesentlich strengere US-Bundesabgasnormen erfüllen mussten.

Die Herausforderung für VW bestand darin, die intern gesetzten Wachstumsziele und die gestiegenen externen Anforderungen in Einklang zu bringen. Die Lösung sahen die Ingenieure darin, einen Dieselmotor zu entwickeln, der effizient, leistungsstark und sauber war. In Europa war VW bereits führend bei der Einführung des Dieselmotors für Pkw und produzierte Motoren mit geringerem Geräusch- und Geruchspegel bei gleichzeitig hervorragender Beschleunigung und niedrigem Kraftstoffverbrauch. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Leistung auf Kosten höherer Emissionen blieb jedoch bestehen, auch wenn der Dieselmotor und die Abgastechnologie als Piëchs persönliches Innovationsideal verstanden wurden.

Bei seinem Versuch, den US-Markt zu erobern, baute VW auf die Idee des sauberen Diesels und warb in den USA 2015 mit Fernsehspots, in denen VW-Dieselfahrzeuge als «saubere Diesel» beworben wurden, welche die US-Abgasnormen erfüllen. Die bessere Leistung und die geringeren Emissionen bedeuteten, dass sich die Besitzer*innen sowohl für Subventionen als auch für Steuerbefreiungen qualifizierten. VW-Mitarbeitende hatten sich schon früh darüber beschwert, dass die Emissionsanforderungen der kalifornischen EPA unrealistisch und für VW fast unmöglich zu erfüllen seien. Dies galt insbesondere in Verbindung mit den formulierten Leistungs- und Effizienzzielen. Für diejenigen, die das paradoxe Versprechen eines «schnellen, billigen und umweltfreundlichen» Dieselfahrzeugs einlösen mussten, erwies es sich als ein unlösbares technisches Rätsel.

Die Wettbewerber des Unternehmens gingen mit diesem Paradoxon unterschiedlich um. Sowohl BMW als auch Mercedes-Benz stellten fest, dass dies ein nahezu unmögliches Ziel war. BMW erfüllte die Emissionsanforderungen durch eine Verringerung der Kraftstoffeffizienz. Dies erhöhte letztlich den Preis des Fahrzeugs, da zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren – für Piëchs ideale Lösung war dies nicht akzeptabel. Um Leistungsdefizite auszugleichen, spritzte Mercedes-Benz zusätzlich Harnstoff ein, um NOx in weniger schädliche Stoffe umzuwandeln. Der Ansatz führte zu mehr Leistung und geringerem Kraftstoffverbrauch, erforderte aber einen separaten Tank für den Harnstoff. Dieser musste regelmäßig nachgefüllt werden, was zusätzliche Kosten und Unannehmlichkeiten für die Autobesitzer*innen bedeutete, was wiederum für das VW-Ideal, den Dreifacherfolg zu erzielen, nicht akzeptabel war. Ungeachtet dieser Herausforderung drängte VW weiterhin auf einen Dieselmotor, der die Kundenwünsche nach Leistung und Effizienz erfüllt und zugleich die US-Emissionsziele erreicht.

Kontext des Skandals

Ehrgeizige Ziele waren bei VW unter dem früheren Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn die Regel, getreu dem Motto «Geht nicht, gibt’s nicht». Piëch war dafür bekannt, Ingenieure mit schwierigen Aufgaben zu betrauen Bei Nichtbestehen drohte ihnen die Entlassung. Wenn Ingenieure berichteten, dass sie den Abgastest angesichts der Technologie nicht bestehen könnten, sagte Piëch: «Ihr werdet bestehen, ich verlange es! Oder ich werde jemanden finden, der es schafft». Zwischen 2008 und 2015 verkündete VW dann öffentlich, das Paradox gemeistert und Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang gebracht zu haben. In der Praxis gelang es den VW-Ingenieuren jedoch nicht, dieses Ziel zu erreichen.

Als VW mit der Entwicklung des umweltfreundlichen Motors begann, wurde bald klar, dass dieser nicht gleichzeitig die Erwartungen der Kunden als auch die neuen, strengeren US-Abgasnormen erfüllen konnte. Anstatt das Versagen einzugestehen, entwickelten die VW-Ingenieure also eine Software, die erkannte, wann das Auto einem Test unterzogen wurde, und die Emissionskontrollen ein schaltete. Nach Bekanntwerden des Skandals bekannte sich einer der beteiligten Ingenieure schuldig und gab die Entwicklung zu, die die Abgasreinigung unter Laborbedingungen automatisch aktivierte. Die Abschalteinrichtung
sorgte dafür, dass der saubere Diesel von VW den Anschein erweckte, Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang zu bringen: das TDI-Wunder. Anfangs waren Technologen und Umweltschützer gleichermaßen von der neuen VW-Technologie fasziniert. Skeptische Experten fragten sich schon damals, wie diese Autos so gut sein konnten. Als einige Datenunregelmäßigkeiten auftauchten, wuchs der Argwohn. Eine unabhängige Analyse ergab, dass die Software den Fahrzeugen ermöglichte, einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch auf Kosten höherer Stickoxidemissionen zu erreichen, wobei die NOx-Emissionen auf der Straße bis zum 40-fachen der Norm lagen. Der Abgasskandal flog am 18. September 2015 auf. VW gab später zu, dass die Software in elf Millionen Autos installiert wurde, von denen acht Millionen Fahrzeuge in Europa und fast eine halbe Million in den Vereinigten Staaten verkauft worden waren. Obwohl die Abschalteinrichtung – letztlich nur ein paar Zeilen Computercode – in der Entwicklung nur einige Tausend Euro kostete, führte sie zu einem gigantischen wirtschaftlichen Schaden.

Der weitere Verlauf des Skandals wurde von mehreren Dementis und verschiedenen Anschuldigungen begleitet. So beschuldigte der US-VW-Vorstandsvorsitzende Michael Horn vor einem Kongressausschuss die Software-Ingenieure und behauptete, der Betrug sei nicht von der Unternehmensspitze ausgegangen. Weitere Untersuchungen ergaben allerdings, dass der Betrug systematisch betrieben, die Vertuschung auf höchster Unternehmensebene inszeniert und gebilligt wurde, dieser mehr als ein Jahrzehnt dauerte und dabei Dutzende von Ingenieuren beteiligt waren.

Verschärfend zu dem, was in der Branche als normal galt, war die VW-Führungskultur von Angst und Einschüchterung geprägt. Zudem bestand im Unternehmen eine Führungsstruktur, die durch Familienkontrolle, Staatseigentum und Mitarbeitereinfluss gekennzeichnet war und die VW von externen Stimmen und Einflüssen abschirmte. Diese Mischung in Verbindung mit einem Führungsstil, der durch «Führen durch Angst» beschrieben wird, könnte erklären, warum diejenigen, die das paradoxe Versprechen einlösen mussten, eher zur Täuschung griffen, als ein Scheitern zuzugeben. Als Reaktion auf die gravierenden Regelverstöße betonte der Nachfolger Winterkorns, wie wichtig es sei, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit nach dem Skandal wiederherzustellen. Er versprach verbesserte Betriebsabläufe sowie Berichts- und Kontrollsysteme, um die Verantwortlichkeiten zu klären und ein robusteres System für Hinweisgeber zu gewährleisten. Vier Jahre nach dem Skandal endet der Werbespot von VW mit «in the darkness, we found the light», unterlegt mit «Hello darkness, my old friend». Damit unterstreicht das Unternehmen sein Engagement für die Elektromobilität, einhergehend mit der Zustimmung, zwei Milliarden Dollar für die Infrastruktur von Elektrofahrzeugen auszugeben und den Skandal so hinter sich zu lassen.

«Geldstrafen, Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise, höhere Kreditkosten.»

Die Auswirkungen

Der VW-Dieselskandal hatte drastische Folgen für Investoren, Händler sowie Kunden und wirkte sich auf die gesamte Automobilbranche aus – u. a. verloren Dieselmotoren massiv an Popularität. Neben Auswirkungen rechtlicher Natur führte der Skandal zu Umsatzeinbußen sowie zu einem Image- und Reputationsverlust der Marke. Die Werbung für «saubere Dieselfahrzeuge» führte zu einer systematischen Täuschung der Kunden. Betroffene Käufer sahen sich einem geringeren Wiederverkaufswert gegenüber, da der Name der Marke durch den Skandal in Verruf geraten war.

Die finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen waren vielfältig: Geldstrafen und Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise und höhere Kreditkosten. Nach dem Skandal wurden Sammelklagen und mehrere Klagen gegen VW eingereicht. Diese kamen von Aufsichtsbehörden, Verbraucher*innen, Investor*innen und dem Vertragshandel. Für das Managementteam war der Skandal mit zahlreichen Klagen, strafrechtlichen Verurteilungen, Rücktritten, Suspendierungen und Untersuchungen verbunden.

Der Betrugsprozess in Deutschland gegen vier ehemalige VW-Manager kommt nur langsam voran, weil die meisten Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Viele Verhandlungstermine wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt, der Vorstandsvorsitzende Winterkorn ist wegen eines ärztlichen Gutachtens noch nicht vor Gericht erschienen. Seit 2018 läuft zudem ein Gerichtsverfahren, in dem vor allem institutionelle Anleger Ansprüche in Milliardenhöhe geltend machen. VW soll lange Zeit Informationen über den Abgasskandal geheim gehalten haben, wodurch Anleger einen finanziellen Schaden erlitten haben.

VW gibt zu, dass sich die Kosten für Rückkäufe, Reparaturen und Rechtsstreitigkeiten bisher auf mehr als 32 Milliarden belaufen – vor allem in Form von Bußgeldern und Schadensersatzzahlungen in Nordamerika. Ein zentrales Thema für Aufsichtsbehörden und Umweltbehörden war der Status der Vergünstigungen, die VW für seine angeblichen Umweltinitiativen gewährt wurden. VW beging Betrug, indem das Unternehmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Steuererleichterungen in Anspruch nahm, um den Verkauf vermeintlich schadstoffarmer Autos zu fördern. Ironischerweise wurde VW in den Jahren 2009 und 2010 die Auszeichnung «Umweltfreundlichstes Auto des Jahres» verliehen. Auch wenn die Auszeichnung später zurückgezogen wurde, bot sie für lange Zeit kostenlose Werbung.

Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt waren für VW immens: In den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals verlor die Aktie rund ein Drittel ihres Wertes und verharrte lange Zeit auf diesem Niveau. Die Anleger beklagten, dass VW den Finanzmärkten Informationen über den Dieselbetrug vorenthalten habe, wofür sie angesichts des durch den Betrug verursachten Wertverlusts eine Entschädigung fordern. Der Skandal betraf aber auch die Automobilindustrie als Ganzes. Andere Automobilhersteller gerieten ebenfalls ins Visier der Aufsichtsbehörden. Händler mussten mit einem Bestand an schwer verkäuflichen Autos umgehen und stoppten den Verkauf, Zulieferer von Komponenten für die Dieseltechnologie und andere von VW abhängige Lieferanten waren massiv betroffen. Die gesamte Branche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich litten auch die Beschäftigten unter den folgenden Kostensenkungs-und Rationalisierungsprogrammen.

Die Folgen für Umwelt und Gesundheit sind schwer zu beziffern. Die verursachte Luftverschmutzung begünstigte Smog und wurde mit einer Zunahme von Asthma- und Atemwegserkrankungen sowie vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht. VW versuchte, den Schaden durch Vergleiche, Entschädigungen, Rückrufe und eine Behebung der Mängel durch technische Änderungen an den betreffenden Modellen zu beheben. In den meisten Fällen konnten die Fahrzeuge in Europa mit einem einfachen Software-Update und einer kurzen Fahrt zur Werkstatt repariert werden. In schwierigeren Fällen war eine kleinere Hardware-Reparatur erforderlich.

In den USA, insbesondere bei Fahrzeugen der ersten Generation, war die Angelegenheit komplizierter. VW schlug den Geschädigten vor, einen neuen Katalysator in diese Fahrzeuge einzubauen. Der Versuch, die Motoren zu reparieren, um die Abgasnorm zu erfüllen, beeinträchtigte allerdings die Leistung und Effizienz, diese stand allerdings im Mittelpunkt des Versprechens von VW. Die Kunden beschwerten sich daraufhin, dass ihre Fahrzeuge einen höheren Kraftstoffverbrauch und eine geringere Leistung aufwiesen. Bei der Anhörung vor dem US-Kongress räumte der für das US-Geschäft zuständige CEO ein, dass die Leistung der Fahrzeuge leiden könnte, wenn die Abgasnormen eingehalten würden. Auf die Frage einer Kongressabgeordneten, warum VW kein Auto baue, das diese Ziele erfülle, erklärte er «ich denke, weil Schummeln billiger ist.»

Die dunkle Seite des paradoxen Managements

Der Verlauf des VW-Skandals zeigt, wie das Unternehmen Impression Management einsetzte, um mit Paradoxien umzugehen, die durch internen (hochgesteckte Ziele und Ambitionen) und externen Druck (gesetzliche Anforderungen, starker Wettbewerb, Kundenerwartungen) ausgelöst wurden. Der von Angst und Einschüchterung geprägte Führungskontext spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Die vermeintliche Behebung eines technischen Problems mit einer Lösung, die sich letztlich als Illusion herausstellte, führte dazu, dass VW sich noch tiefer in das ursprüngliche Paradoxon verstrickte. Ohne eine technische Lösung für die Herausforderung erwies sich die Bewältigung des Paradoxons als unmöglich. Der dramatische Fall zeigt deutlich die Schattenseiten des falschen Umgangs mit Paradoxien und organisatorischem Fehlverhalten.

Die Kombination aus paradoxen Versprechen, Stretch Goals, technischer Unmöglichkeit und externem wie internem Druck kann Unternehmen dazu verleiten, Fassaden zu entwickeln, die mit der Realität wenig zu tun haben. Der VW-Abgasskandal zeigt eindrucksvoll die Risiken und dysfunktionalen Folgen eines Impression Managements, welches die Kluft zwischen paradoxen Versprechen und der Praxis überbrückt.

In Anbetracht des paradoxen, von der Unternehmensleitung gesetzten ambitionierten Ziels kann man davon ausgehen, dass die Manager*innen der unteren Ebenen keine andere Wahl hatten, als die Unmöglichkeit zuzugeben – oder die Illusion zu schaffen, das Unmögliche erreicht zu haben. Sie waren machtlos angesichts einer Lose-Lose-Situation – verdammt, etwas zusagen, verdammt, dies nicht zu tun.

In gewisser Weise delegierte die Unternehmensleitung ein unmögliches Paradoxon an die Ingenieure, was letztlich zu einer Diskrepanz zwischen den Unternehmenszielen und den Handlungen der Akteure sowie zur Aufrechterhaltung einer Illusion führte. Während das Topmanagement in Unternehmen solche Paradoxien als lösbare Herausforderung ansieht, erleben untere Ebenen sie als unlösbar und managen angesichts der Unmöglichkeit wie im Fall von VW eher Eindrücke als Emissionen.

Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen und organisatorischen Komplexität, des Wandels und diverser Knappheiten wird die Fähigkeit, mit Paradoxien umzugehen, immer wichtiger. Es ist unbestritten, dass Führungsstrukturen, die Organisationsmitglieder davon abhalten, schlechte Nachrichten zu übermitteln, genau wie eine Kultur, in der «der Zweck die Mittel heiligt» und Angst und Einschüchterung vorherrschen, sowie Anreizsysteme, die zu unethischen Verhaltensweisen einschließlich Betrug und Fälschung führen, ein zweifelhaftes Management von Paradoxien wie im Fall von VW fördern. In einem solchen Kontext begünstigt der permanente Druck auf das mittlere Management nach Ergebnissen und Zielen die Entwicklung eines Umfelds, in dem die unausgesprochene Akzeptanz von Illegalität und das Wegschauen bei Abweichungen zum akzeptieren Ausweg werden.

Noch bedrohlicher ist, dass das falsche Management von Paradoxien dazu führt, dass die oberste Führungsebene ihre eigenen Problemlösungskapazitäten und die Ressourcen des Unternehmens überschätzt und möglicherweise Eindrucksmanagement und Selbstbetrug weitertreiben. Aus Angst, das Gesicht zu verlieren und kritisiert zu werden, bemühen sich die unteren Ebenen, das von der Spitze geschaffene Narrativ zu schützen, statt das Topmanagement mit den praktischen Schwierigkeiten eines «Sowohl-als-auch»-Ansatzes zu konfrontieren.

Umgang mit Paradoxien

Der VW-Dieselskandal ist ein Beispiel für eine paradoxe Herausforderung, bei der das Unmögliche möglich erscheint. Ein Fall, in dem der falsche Umgang mit Paradoxien zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führt und in einem kolossalen Misserfolg mündet, und in dem Erzählung und Praxis auseinanderdriften. Paradoxien, die technisch nicht zu bewältigen sind, sollten Anlass für Organisationen, ihre Mitglieder und Berater*innen sein, achtsamer und bescheidener mit ihnen umzugehen und übereilten «Lösungen» für komplexe Probleme kritischer gegenüberzustehen.

Manager*innen sollten sich bewusst sein, dass vertraute und einfache Lösungen mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit und im Laufe der Zeit zu einem Problem werden können. Lösungen können gerade dann problematisch werden, wenn sie automatisch greifen und unhinterfragt bleiben, nur weil sie in der Vergangenheit funktioniert haben. Es ist daher wichtig, eine kritische Haltung gegenüber routinemäßigen Lösungen und Organisationsrezepten zu entwickeln. Immer dann, wenn eine Lösung schleichend zur Gewohnheit wird, birgt sie das Risiko, zum Problem zu werden.

Der vorliegende Fall zeigt, wie der Umgang mit Paradoxien zu unangenehmen Überraschungen und Teufelskreisen führen kann, die sich nur schwer einfangen lassen. Die Arbeit am System statt im System, das Überschreiten bestehender Grenzen und das Erforschen und Sichtbarmachen gegensätzlicher Ansichten sind wichtige Voraussetzungen für ein wirksames Paradoxie Management. Auch und gerade die nähere Beschäftigung mit den Schattenseiten paradoxer Konstellationen eröffnet Organisationen die Möglichkeit, komplexe Situationen positiv und nachhaltig zu gestalten. Eine Organisationskultur, die Führungskräften und Mitarbeitern*innen ausreichend Gelegenheit gibt, aus Verlusten zu lernen und die die psychologische Sicherheit bietet, Misserfolge zuzugeben, ist eher in der Lage, mit komplexen und widersprüchlichen Zielen umzugehen.

Berater*innen können für Organisationen, die mit Paradoxien konfrontiert sind, unterstützend hilfreich sein, um organisatorische Herausforderungen und deren Kompromisse verständlich zu machen, zum Umdenken aufzufordern und einen Entwicklungsraum zu schaffen, in dem widersprüchliche Ziele diskutiert und bewältigt werden können. Ihre Rolle kann z. B. darin bestehen, latente Spannungen sichtbar zu machen oder eine andere Rahmung der Spannungen anzubieten, um so die Paradoxien besser handhabbar zu machen. Oder sie dienen als «dritte Person», um widersprüchlichen Ideen genügend Raum zu geben und eine Außenseiterperspektive einzubringen.

Organisationen oder Führungskräfte neigen mitunter dazu, Widersprüche durch Entweder-oder-Lösungen aufzulösen (siehe Interview mit Barry Johnson auf Seite 33), um sehr managementorientiert zu erscheinen. Ein solcher Umgang mit Paradoxien mag kurzfristig ein gutes Image vermitteln und Ängste abbauen, es birgt aber die Gefahr, langfristig ineffektiv zu sein. Auch hier können Berater*innen hilfreich sein, indem sie gemeinsam Annahmen entlarven, den Status quo in Frage stellen, Spannungen und Widersprüche sichtbar machen und die Fähigkeit zu paradoxem Denken und Handeln fördern. Beratende können einen Raum schaffen und Manager*innen dazu ermutigen, Widersprüchlichkeit zuzulassen und gegensätzliche Forderungen zu vertreten, ohne dass das eine auf Kosten des anderen gehen muss. Genauer gesagt, können sie Manager*innen dabei helfen, die Neugierde auf Widersprüche und versteckte Gegensätze, die Akzeptanz von Konflikten, die Fähigkeit und Freiheit, Fragen zu stellen, die Bereitschaft, Komplexität zu steigern, statt diese zu reduzieren, und die Wertschätzung widersprüchlicher Erkenntnisse zu fördern. Ein erfolgsversprechender Bearbeitungsprozess setzt voraus, dass die Gegensätze nicht (mehr) als unabhängig betrachtet werden. Ein solcher Ansatz schafft die Voraussetzung für das Erkennen der Verbindung zwischen den in Spannung stehenden Kräften, integriert Perspektiven und ermöglicht ein Verständnis, dass die Welt auch Spannungen und Widersprüchen besteht.

Schließlich sollten Führungskräfte in die Tiefe und in die Breite gehen. Sie müssen in die Tiefe gehen, um ihre Organisation zu verstehen. Und sie müssen in die Breite gehen, um die Welt und ihre komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Unabdingbar dafür sind Zeit oder Raum für Reflexion, um nicht den einfachen Weg zu wählen, sondern Gelegenheiten wahrzunehmen, sich mit Paradoxien auseinanderzusetzen, die Chancen des Lernens durch Erkundung zu nutzen und Rückblick, Einsicht und Vorausschau zu verbinden.

Prof. Miguel Pina e Cunha
Nova School of Business and Economics, Carcavelos, Portugal

Prof. Medhanie Gaim
Associate Professor und Dozent, Umeå School of Business and Economics, Schweden

Prof. Dr. Stewart Clegg
Emeritus Professor, UTS Business School und Professor, University of Sydney Faculty of Engineering, School of Project Management

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Literatur

• Berti, M. & Simpson, A. V. (2021). Die dunkle Seite der organisatorischen Paradoxien: The dynamics of disempowerment. Academy of Management Review.
• Borgeest, K. (2021). Manipulation von Abgaswerten. Springer Fachmedien.
• Cunha, M. P., Giustiniano, L., Rego, A. & Clegg, S. (2017). Mission impossible? The paradoxes of stretch goal setting. Management Learning.
• Cunha, M. P., Clegg, S. R., Rego, A. & Berti, M. (2021). Paradoxien von Macht und Führung. Routledge.
• Ewing, J. (2017). Schneller, höher, weiter: The inside story of the Volkswagen scandal. Random House.
• Gaim, M., Clegg, S. & Cunha, M. P. (2021). Managing Impressions Rather Than Emissions: Volkswagen und die falsche Beherrschung des Paradoxen. Organization Studies.
• Gaim, M., Clegg, S., Cunha, M.P. & Berti, M. (2022). Organisatorisches Paradoxon. Cambridge University Press.
• Goffman, E. (1959). Die Darstellung des Selbst im täglichen Leben. Anchor.
• Lutz, B. (2015). Ein Mann etablierte die Kultur, die zu VWs Abgasskandal führte: A diesel dictatorship. Road and Track.
https://zoe-online.org/vw-diesel-fiasco
• Pradies, C., Tunarosa, A., Lewis, M. W. & Courtois, J. (2021). Von bösartigen zu tugendhaften paradoxen Dynamiken: Die sozialsymbolische Arbeit von Unterstützungsakteuren. Organization Studies.
• Smith, W. & Lewis, M. (2022). Beides und Denken. Harvard Business Review Press.

 


Digital transformieren

Wie digitale Innovationen neue Chancen und Risiken für das Change Management bringen

Zunehmend experimentieren Organisationen mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW), um das Change Management nachhaltiger und wirksamer zu machen. Allerdings gibt es bislang nur unzureichende Erkenntnisse zu deren Einsatz. In diesem Artikel adressieren wir die Chancen und Risiken von DIOW, um Veränderungsprozesse inklusiver, individualisierter und anpassungsfähiger zu gestalten. Damit möchten wir die Diskussion über ein wichtiges Thema vertiefen, das die Zukunft des Change Managements voraussichtlich prägen wird.

Veränderungen sind für Organisationen lebenswichtig, dennoch sind Veränderungsprozesse mit Herausforderungen behaftet. Insbesondere die digitale Transformation schreitet voran und stellt bestehende Geschäftsmodelle auf den Kopf. Während der Fokus oft auf der digitalen Transformation liegt, also der Frage «Wie meistern wir den digitalen Wandel?», ist über das Thema «digital transformieren» d. h. also «Wie können digitale Innovationen die Transformation unterstützen?», bislang weniger bekannt.

Status quo: Digitale Innovationen und Change

Digitale Innovationen, d. h. Produkte oder Prozesse, die als neu und signifikant anders wahrgenommen und durch digitale Technologien ermöglicht werden, verändern die Arbeitswelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Organisationen begonnen haben, mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW) zu experimentieren (siehe auch Zeitschrift OrganisationsEntwicklung 2/2020 zu «Smarter Wandel»). Diese DIOW kommen in unterschiedlichsten Formen und reichen vom Einsatz sozialer Medien über Gamification bis zu datengetriebenem Monitoring. Das Interesse an DIOW ist an der wachsenden Zahl an Beratungsfirmen und Startups in diesem Bereich abzulesen. Ziel ist es, Wandel digitalgestützt zu begleiten, um wichtige Stellhebel wie Beteiligung, Befähigung und Kommunikation wirksamer zu gestalten.

Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass über den Einsatz von DIOW unzureichende Erkenntnisse vorliegen. So ist u. a. unklar, welche Merkmale der Gestaltung und des Einsatzes von DIOW besonders erfolgsversprechend sind, welche Voraussetzungen die Akzeptanz der Stakeholder beeinflussen oder wie der Beitrag von DIOW für den Veränderungserfolg aussehen und gemessen werden kann. Für Organisationen stellen sich auch Fragen, die über die reine Wirksamkeit hinausgehen: Sie müssen in regulierten Umwelten mit widersprüchlichen Interessen umgehen. Fragen zu Datenschutz und Mitbestimmung sind in digitalen Arbeitswelten ebenso zu berücksichtigen wie Diversität und Gleichstellung. Das heißt, dass neben den – v. a. von den Anbietern – angepriesenen Chancen, auch die Risiken adressiert werden müssen (Kanitz & Gonzalez, 2021).

Typen digitaler Innovationen für organisationalen Wandel

Doch wie sehen diese DIOW konkret aus? Zum einen lassen sich DIOW aus einer Technologieperspektive betrachten. Hier geht es darum, welche Funktionen DIOW aufweisen. In diesem Beitrag unterscheiden wir drei Kategorien. Erstens sehen wir zunehmend den Einsatz von digitalgestützten Beteiligungs- und Dialogformaten, um die Initiierung inklusiver zu gestalten. Zweitens betrachten wir digital personalisierte Nudges und Boosts, um die Mobilisierung mittels maßgeschneiderter Interventionen voranzutreiben. Drittens beobachten wir den Einsatz von datengetriebenem Echtzeit-Monitoring, um durch automatisierte Analysen eine flexible Anpassung der Maßnahmen während der Umsetzung zu ermöglichen. Abbildung 1 fasst die Kategorien, Beschreibungen und Beispiele zusammen.

Aus einer Aufgabenperspektive – d. h. in welcher Phase DIOW zu welchem Zweck eingesetzt werden – rückt zum anderen die Gestaltung des Prozesses in dem Mittelpunkt. Die Forschung hat verschiedene Faktoren identifiziert, die im Zusammenspiel die Veränderung ermöglichen und stellt dabei den «Faktor Mensch» als entscheidend heraus. Genau hier setzen DIOW an und bieten Chancen auf drei Ebenen:
1. Inklusion: breite und tiefe Involvierung vieler Stakeholder um die Qualität und den Buy-in der Betroffenen zu stärken
2. Individualisierung: individuell maßgeschneiderte, aber skalierbare Kommunikation und Befähigung der Betroffenen
3. Anpassungsfähigkeit: zielgenaues Nachsteuern eines datengetriebenen Veränderungsprozesses auf Basis zeitnaher Rückkopplung zwischen Führungskräften und Beschäftigten

Im Folgenden bringen wir die Aufgaben- und Technologieperspektive zusammen und erläutern Chancen und Risiken beim Einsatz von DIOW. Abbildung 2 fasst die wesentlichen Punkte zusammen.

Digitale Innovationen in der Initiierung: Inklusiv durch breite und tiefe Involvierung

Vor allem digitalgestützte Beteiligungs- und Dialogformate bieten Möglichkeiten, um Veränderungsprozesse inklusiver zu machen. Durch soziale Netzwerke, Blogs oder Wikis können Stakeholder am Diskurs über Veränderung teilnehmen («Demokratischer Wandel»).

Chancen. Die aktive Involvierung ist ein etablierter Stellhebel im Change Management, um die inhaltliche Qualität von Initiativen zu steigern und die Akzeptanz der Betroffenen zu stärken. Allerdings ist die Involvierung von Stakeholdern mit gegensätzlichen Interessen über längere Zeiträume kompliziert und aufwendig. DIOW bieten hier neue Chancen und finden zunehmend Anwendung in Unternehmen aber auch im öffentlichen Raum (z. B. Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen in Städten, siehe Trénel, 2020). Zunächst erlauben DIOW die Möglichkeit, die Breite der Involvierung zu erhöhen und eine größere Anzahl von Stakeholdern einzubinden. So hat IBM bereits in den 2000ern virtuelle «Jams» durchgeführt. Hierbei wurden Mitarbeiter*innen aufgefordert, ihre Meinungen und Vorschläge zu einer Initiative in einer virtuellen Community zu teilen. Nach vielen tausenden Kommentaren, wurden diese mit automatisierten Textanalysen ausgewertet, um das Stimmungsbild und die wesentlichen Themen zu identifizieren. Die Kernergebnisse flossen in die Überarbeitung der Initiative ein. Andere Beispiele zeigen, wie interne soziale Netzwerke den direkten und ungefilterten Austausch über Hierarchiegrenzen oder Organisationsbereiche hinweg  ermöglichen. Ziel ist es, eine große Anzahl von Stakeholdern einzubeziehen und diverse Stimmen einzufangen.

Darüber hinaus fördern DIOW die Tiefe der Involvierung. Involvierungsmaßnahmen unterscheiden sich in der Qualität des Austauschs und können eher fokussiert, einseitig-informativ (z. B. anonyme Befragungen) oder offen, dialogorientiert sein (z. B. Open Space Workshop). Beispielsweise experimentieren Organisationen mit DIOW, die digitalgestützt Dialogprozesse in Kulturveränderungen anstoßen, strukturieren und auswerten. Dabei machen Teilnehmer*innen über mehrere Phasen Angaben über eine App (z. B. zu Unternehmenswerten) und diskutieren im Anschluss die aggregierten Ergebnisse im eigenen Team, um einvernehmlich neue Eingaben in der Gruppe vorzunehmen. Dieser iterative Prozess wird durch digitale Impulse wie Kurzvorträge oder Übungen begleitet. Dadurch können viele Betroffene über einen längeren Zeitraum tiefgreifend eingebunden und gleichzeitig ein kollektiver Reflexionsprozess angestoßen werden. Zusätzlich entstehen wertvolle Daten, die für die Diagnose von Kulturfacetten in der Organisation, aber auch für die Ableitung von Maßnahmen genutzt werden können.

Risiken. Die Nutzung sozialer Medien kann einen gewissen Grad an Kontrollverlust über die entstehenden Inhalte bedeuten. Es ist möglich, dass die generierten Ideen im sozialen Netzwerk nicht konform mit der Ausrichtung sind, die die Initiator*innen im Kopf hatten. Darüber hinaus können in sozialen Netzwerken negative Dynamiken entstehen. Durch die transparenten Interaktionen kann die rasche Verbreitung negative Ressentiments oder Widerstände bezüglich der Veränderung stärken. Führungskräfte haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, Einfluss auf die Netzwerkdynamiken zu nehmen. Entsprechend ist eine professionelle Moderation der digitalen Beteiligungsformate essenziell (Groß & Hardwig, 2020). Darüber hinaus können DIOW überhöhte und teils unrealistische Erwartungen hinsichtlich der Berücksichtigung des Inputs hervorrufen. Beispielsweise können diese die Erwartung schüren, dass der Input sich direkt und sichtbar in den Inhalten oder Entscheidungen niederschlägt.
Ist das wie oft in der Praxis – aus guten Gründen – nicht der Fall, kann dies zu Frustration und Gleichgültigkeit führen und die Bereitschaft untergraben, sich erneut einzubringen. Gerade bei digitalgestützten Beteiligungsformaten, die für die Initiator*innen ressourcenschonender anzuwenden sind als analoge Formate, kann schnell der Eindruck von Pseudo-Beteiligung entstehen. Damit ist gemeint, dass Beteiligung nur simuliert wird, ohne wirklich Mitsprache an Inhalten und Entscheidungen zu gewähren.

Digitale Innovationen in der Mobilisierung: Individualisiert und zielgenau befähigen

Personalisierte Nudges und Boosts, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen, eröffnen neue Perspektiven. Während Nudges, d. h. personalisierte Handlungsimpulse, eine Verhaltensänderung initiieren sollen (z. B. individuelle Push Nachrichten sich im nächsten Meeting stärker einzubringen), fokussieren Boosts die Förderung der persönlichen Entscheidungs- und Handlungskompetenz (z. B. Erklärvideo zum Hintergrund der Reorganisation) der Beteiligten (Hertwig & Grüne-Yanoff, 2017).

Chancen. Standardisierte Change Management Ansätze, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen nicht ausreichend berücksichtigen, gelten als wenig erfolgsversprechend. Daten ermöglichen die Individualisierung von Interventionen, um damit der Diversität der Stakeholder besser gerecht zu werden. Hierbei werden Daten zu individuellen Charakteristika genutzt, um zielgruppenspezifische Interventionen zu generieren. Durch Clusteranalysen können unterschiedliche Typen identifiziert (z. B. Skeptiker vs. Early Adopter) und im Anschluss mit orchestrierten Interventionsbündeln adressiert werden. So erhält jede*r Beteiligte auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Handlungsimpulse. Aus der Perspektive von Führungskräften können damit Interventionen auf bestimmte Zielgruppen in Bezug auf Inhalt und Timing angepasst werden (z. B. Vorwissen, Abteilungszugehörigkeit). Ein weiterer Vorteil ist die leichtere Skalierbarkeit der DIOW. Diese lassen sich auf viele Tausende von Betroffenen über Landesgrenzen und Hierarchieebenen hinweg anwenden und erlauben damit eine skalierbare Individualisierung. Zum Beispiel nutzen einige Organisationen spezielle Change-Applikationen, die auf den Smartphones der Betroffenen installiert werden und damit jederzeit verfügbar sind (DiLeonardo et al., 2020). Über diese Apps werden kurze Befragungen bereitgestellt (z. B. zur Veränderungseinstellung), um relevante Daten zu sammeln. Eine Person, die von der Veränderung bereits überzeugt ist, kann dann andere Kommunikationsmaßnahmen über die Applikation empfohlen bekommen (z. B. Video zur Change Roadmap), als eine Person, die z. B. die Hintergründe der Initiative noch gar nicht kennt. Es geht also darum, die Passung zwischen Interventionen und Bedürfnissen der Empfänger*innen zu erhöhen und damit die Wirksamkeit zu steigern.

«Personalisierte Nudges und Boosts eröffnen neue Perspektiven.»

Risiken. Bei solchen digital personalisierten Interventionen ist zum einen unklar, wer genau und warum die Zielgrößen (z. B. Effizienz, Wohlbefinden, Verständnis) solcher Interventionen festlegt und das Optimum für die Empfehlungen bestimmt. Die Wirkung solcher Interventionen ist zudem kontextsensitiv und kann je nach Art der Veränderung variieren. Ob personalisierte Nudges im Change die erwünschte Wirkung erzielen können, ist bisher wenig erforscht. Deshalb muss die Entwicklung solcher Interventionen gut vorbereitet und getestet werden. Zum anderen bleibt der Datenschutz eine Herausforderung. Da personalisierte Interventionen auf Basis von Daten generiert werden, brauchen wir evidenzbasierte Typologien, auf welche die Interventionen zugeschnitten werden können. Was sind sinnvolle Indikatoren, die in die Typologien-Bildung einfließen können und dürfen? Die besten Daten, um Interventionen zu individualisieren, sind häufig personenbezogene Daten. Entsprechend muss deren Verarbeitung die Datenschutzverordnungen erfüllen und die Zustimmung zur Verarbeitung eingeholt werden. Das wiederum kann zu Ablehnung der App (Laumer et al., 2016) führen. Eine erfolgreiche Mobilisierung ist folglich erschwert.
Die Frage ist demnach, unter welchen Umständen Mitarbeiter*innen bereit sind, solche Daten zu teilen. Ansätze zur Pseudonymisierung können sinnvoll sein, um die Datenqualität hochzuhalten und Datenschutz zu gewährleisten. Zudem können die Konsequenzen der Differenzierung ein Risiko sein, da einige Personengruppen durch die automatisierten Prozesse bestimmte Interventionen nicht erhalten, auf die andere Gruppen Zugriff haben. So kann die Bereitstellung von individualisierten Trainings unter den Mitarbeitet*innen zu einer wahrgenommenen Ungerechtigkeit führen. Diese möglicherweise als Sonderbehandlung empfundenen Interventionen können zu Unsicherheit und Misstrauen führen, was letztlich den Erfolg der Veränderung gefährdet. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was mit Konsens und Commitment in einer Gruppe passiert, wenn viele Individuen eine unterschiedliche Reise durch die Veränderung erleben. Die Interventionen können zwar individuell wirken, aber kollektiv die Abweichung in Wahrnehmungen und Meinungen in einer Gruppe stärken.

Digitale Innovationen in der Umsetzung: Maßnahmen evidenzbasiert und dynamisch anpassen

Datengetriebenes Echtzeit-Monitoring von Veränderungsprozessen umfasst den Einsatz von Anwendungen, die Kurzbefragungen – sogenannte change readiness checks – für Betroffene bereitstellen, die erhobenen Daten dann automatisch und gemeinsam mit zusätzlich eingespeisten Daten (z. B. Personaldaten) auswerten und schließlich in Dashboards aufbereiten.

Chancen. Starre Veränderungspläne, die wenig Raum für Anpassung und flexibles Agieren lassen, gelten als überholt. Hier versprechen DIOW mehr Beweglichkeit: Erstens ermöglicht ein Monitoring den Verantwortlichen ein evidenzbasiertes, zielgenaues und flexibles Nachsteuern der Veränderung. Veraltete Monitoring-Ansätze liefern die Auswertungen meist zeitverzögert oder aufgrund händischer Analyseprozesse auch teils fehlerbehaftet. Mit neuen Lösungen können Ergebnisse aus validierten Kurzbefragungen von repräsentativen Stichproben automatisch und in Echtzeit in übersichtlichen Dashboards dargestellt werden. Diese visualisieren Ergebnisse zu wichtigen Treibern von Veränderungserfolg (z. B. Informationsqualität und Commitment) über unterschiedliche Gruppen (z. B. Abteilungen oder Hierarchieebenen) hinweg. So können Ausreißer identifiziert und sinnvolle Maßnahmen abgeleitet werden. Diese Auswertungen können durch automatisierte Textanalysen von offenen Antwortfeldern und unstrukturierten Daten aus den internen sozialen Medien angereichert werden. Folglich kann schnell tiefgreifender erörtert werden, welche Themen bestimmte Gruppen besonders bewegen. Zweitens ermöglichen solche Monitoring DIOW schnelle  Reaktionen und Adaptionen durch zeitnahe Rückkopplung zwischen Verantwortlichen und Betroffenen. Verantwortliche können sich mit den Dashboards schnell einen guten Überblick über die Veränderungsbereitschaft in der Organisation verschaffen und zeitnah Maßnahmen ableiten. Ein Quick-Win ist häufig, dass bestimmte Ergebnisse mit den Betroffenen automatisch direkt geteilt werden können (z. B. Zugriff auf Teile der Dashboards) und damit effizient Transparenz hergestellt wird. Darüber hinaus können über die Ergebnisse evidenzbasiert Prioritäten bestimmt und direkt angegangen werden.

Risiken. Die oben angesprochenen Herausforderungen zum Datenschutz kommen auch hier deutlich zum Tragen. Effekte sozialer Erwünschtheit und strategischen Antwortverhaltens beeinflussen die Datenqualität und kommen erschwerend hinzu. Außerdem ist aus Sicht der Mitarbeiter*innen jede Befragung nicht nur eine neutrale Messung des Status Quo, sondern in sich selbst eine Intervention, die eine Signalwirkung mit unerwarteten Konsequenzen haben kann. Die geringen Nutzungskosten von digitaler Befragungssoftware können dazu führen, dass Führungskräfte in immer kürzeren Zyklen Daten sammeln – der Versuch, jede Entscheidung abzusichern – sodass Mitarbeiter*innen befragungsmüde werden. Darüber hinaus kann sich auf Seiten der Betroffenen schnell das Gefühl von Überwachung einstellen und zu neuen Widerständen führen. Der Eindruck, per Knopfdruck kontrollierbar zu sein, kann eine ablehnende Haltung auslösen, wodurch schlussendlich die erfolgreiche Veränderungsumsetzung gefährdet wird.
Aber auch aus Perspektive der Verantwortlichen kann der Einsatz von Monitoring-DIOW zu Überforderung führen. Zunächst wird die notwendige Daten- und Analysekompetenz häufig unterschätzt.
Es ist wichtig, die fachgemäßen analytischen Fragen zu stellen, die Daten im Kontext richtig zu interpretieren und daraus die geeigneten Schlussfolgerungen abzuleiten. Ein grundlegendes Verständnis von deskriptiven, aber auch komplexeren Zusammenhangs- (z. B. Regressionsverfahren) oder Clusteranalysen (z. B. latente Klassenanalysen) ist hierfür essenziell.
Das bedeutet, dass diese Datenkompetenzen innerhalb des Change Teams vorhanden sein sollten. Auch die Formulierung und Operationalisierung sinnvoller statt unbewusst lenkender Fragen, stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Eine gute Validierung von Befragungsinstrumenten ist wesentlich für die Aussagekraft der gesammelten Daten. Außerdem führen solche Anwendungen dazu, dass das Feedback von Betroffenen kontinuierlich von den Verantwortlichen aufgenommen und adressiert werden muss. Gegeben den Reaktionen, die bestimmte Veränderungsvorhaben hervorrufen können, erfordert der Umgang mit emotional-negativem Feedback über digitale Kanäle auch starke emotional-soziale Kompetenz, um mit diesen Emotionen zu arbeiten und angemessen zu reagieren.

Weitere übergreifende Herausforderungen

Egal um welche Konstellation der oben skizzierten Aufgaben- und Technologieansätze es bei DIOW geht, kommen weitere Herausforderungen hinzu. So besteht bei einem technokratisch missverstandenen DIOW-Einsatz immer die Gefahr, die Komplexität und widersprüchliche Dynamik realer Change Prozesse hinter einer letztlich immer vereinfachenden Reduktion auf wenige Indikatoren (z. B. durch die Auswahl der KPI im Monitoring) aus dem Auge zu verlieren. Das gilt insbesondere für grundsätzlich schwer zu objektivierende Aspekte wie informelle Beziehungen oder Erfahrungswissen, deren Relevanz u. a. für Veränderungsprozesse (Pfeiffer, 2020) belegt ist. Dies gilt umso mehr für die gerade bei KI-Managementanwendungen (z. B. predictive maintenance) häufig unterschätzten, komplexen Wechselbeziehungen zwischen IT-Systemen und organisationaler Ebene in Veränderungsprozessen.

Zusammenfassung

Veränderungen in Organisationen sind eine Herausforderung. Wie wirksam DIOW dabei unterstützen können, ist eine offene Frage. Viele etablierte Methoden im Change Management bleiben voraussichtlich bestehen. Ebenso bleibt der Fokus auf dem Menschen essenziell für erfolgreichen Wandel. Allerdings bieten DIOW neue Chancen, indem sie Veränderungsprozessen neue Impulse geben sowie die Möglichkeiten von Inklusion, Individualisierung und Anpassungsfähigkeit im Change selbst verändern. Das heißt aber, dass neben Chancen, auch die Risiken ausreichend adressiert werden müssen, um den Effekt von DIOW ganzheitlich abschätzen zu können. Potenzielle Risiken fokussieren z. B. die Möglichkeit der Kontrolle, ethische und datenschutzrechtliche Bedenken sowie die potenzielle Überforderung der Anwender durch Datenflut und technisches Knowhow. Die Diskrepanz zwischen meist positiven Schilderungen der Praxis und fundierten Erkenntnissen motiviert den Diskussionsbedarf. In einem interdisziplinären Projekt gefördert durch das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt, 2022) gehen wir diesen Fragestellungen nach. Damit möchten wir den Diskurs über einen wichtigen Themenbereich anstoßen, der voraussichtlich die Zukunft des Change Managements prägen wird.

 

Prof. Dr. Rouven Kanitz
Assistant Professor of Organizational Change Rotterdam School of Management, Erasmus University

Saskia Hasreiter
Wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin, Institut für Leadership und Organisation, Ludwig-Maximilians-Universität München

Dieser Beitrag entstand in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Martin Högl, LMU München; Prof. Dr. Sven Laumer, Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Bastian Brechtelsbauer und Dr. Katja Schönian, alle FAU Erlangen-Nürnberg.

Literatur:

• bidt – Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation (2022). Transforming digitally: Digitale Innovationen zur erfolgreichen Gestaltung des organisationalen Wandels.
https://www.bidt.digital/forschungsprojekt-diow/
• DiLeonardo, A., Mendelsohn, D., Selvam, N. & Wood, A. (2020). Personalizing change management in the smartphone era. McKinsey Quarterly, May.
https://zoe-online.org/change-smartphone-era
• Groß, S. & Hardwig, T. (2020). Über den Wolken: Moderation im virtuellen Raum. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.
• Hertwig, R. & Grüne-Yanoff, T. (2017). Nudging and boosting: Steering or empowering good decisions. Perspectives on Psychological Science.
• Kanitz, R. & Gonzalez, K. (2021). Are we stuck in the predigital age? Embracing technology-mediated change management in organizational change research. The Journal of Applied Behavioral Science.
• Laumer, S., Maier, C., Eckhardt, A. & Weitzel, T. (2016). User personality and resistance to man-datory information systems: A theoretical model and empirical test of dispositional resistance to change. Journal of Information Technology.
• Pfeiffer, S. (2020). Kontext und KI: Zum Potenzial der Beschäftigten für Künstliche Intelligenz und Machine-Learning. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik.
• Trénel, M. (2020). Mitsprache digital: Lebendige Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen am Beispiel der Stadt Zürich. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.

 


Gehirngerecht Arbeiten

Hin zu einer Kultur der Konzentration

Eine umfassende Studie zu Fragmentierung im Büroalltag belegt eindrucksvoll, wie viel Zeit Beschäftigte tatsächlich durch Unterbrechungen und Multitasking verlieren. Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) können eine Antwort darauf liefern und sollten als kollektive Prinzipien in Organisationen verankert werden, um wirksam zu werden.

In vielen Unternehmen ist der Alltag geprägt von Lärm in Großraumbüros, Fragmentierung, Multitasking, Informationsüberflutung, ineffizienten Meetings und einer Kultur der ständigen Erreichbarkeit. Drei Tage pro Monat kosten uns Arbeitsunterbrechungen, ermittelte nun die erste große Tagebuchstudie zu Fragmentierung im Büroalltag, die in 25 Unternehmen aus zwölf Branchen durchgeführt wurde (Starker et al, 2022). «Tagebuchstudie» bedeutet hier, dass die Befragten mittels einer App an drei Arbeitstagen gebeten wurden, mehrfach pro Tag mit kurzen Fragebögen bzw. Strichlisten alle Unterbrechungen zu registrieren.

Zusätzlich erleben wir einen Boom der Online-Meetings, wobei die Studienteilnehmenden unabhängig davon, ob die Meetings in Präsenz oder virtuell stattfinden, angaben, dass mindestens 35 Prozent aller Meetings irrelevant für sie waren. So verlieren wir zwei weitere Tage und kommen auf insgesamt fünf Tage Zeitverlust pro Monat. Gleichzeitig mehren sich die Rufe nach einer 42-Stunden-Woche, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Dabei wurden laut Statista in Deutschland 2021 bereits über 1,7 Mrd. Überstunden geleistet. Eine Verlängerung der Arbeitszeit wäre lediglich mehr desselben, und das Potenzial gehirngerechteren Arbeitens, das die Studie ermittelt hat, bliebe unbeachtet.

Die gute alte E-Mail führt die Liste der Arbeitsunterbrecher an, auch wenn alle an der Studie beteiligten Unternehmen einen hohen Digitalisierungsgrad aufweisen. Die im Schnitt gemessenen 15 Unterbrechungen pro Stunde führen zu einem Zeitverlust von drei vollen Tagen pro Monat, weil unser Gehirn nach jeder Unterbrechung eine Re-Fokussierungszeit braucht. Diese liegt bei einfachen Aufgaben bei 15 Prozent, um die sich die Bearbeitung einer Aufgabe verlängert, und bei komplexen Aufgaben bei bis zu 28 Prozent. Von den 15 gemessenen Unterbrechungen erfolgen neun durch äußere Störungen und sechs sind darauf zurückzuführen, dass wir uns selbst unterbrechen, z. B. indem wir ohne äußeren Anlass den E-Mail-Posteingang prüfen. Offenbar sind wir die Unterbrechungsimpulse derart gewöhnt, dass wir sie aktiv suchen, wenn sie von außen nicht erfolgen. Diese per Tagebuch gemessenen Arbeitsunterbrechungen lösen eine Belastung von 58 Mrd. Euro p. a. für deutsche Unternehmen aus.

Wir verbringen zu viel Zeit in Meetings, die wir nicht brauchen oder die unproduktiv sind. Die in der Tagebuchstudie als irrelevant eingeschätzten 35 Prozent der Meetings bedeuten zwei volle Tage verlorene Zeit pro Monat pro Beschäftigtem und kosten die deutschen Unternehmen weitere 56 Mrd. Euro p. a. Hybrides Arbeiten verschärft die Situation: Laut der Microsoft Trend Studie 2021 ist ein rasanter Anstieg der Online-Meetings um 148 Prozent zu verzeichnen. Da 62 Prozent davon nicht geplant werden, wird der Arbeitstag noch stärker fragmentiert.

Je mehr Technik, desto erschöpfter sind wir

In der Tagebuchstudie konnte ermittelt werden, dass bei höherem Digitalisierungsgrad die Multitasking- und Unterbrechungshäufigkeit höher ist und damit einhergehend das Stresserleben. Mit anderen Worten: Je mehr digitale Tools Beschäftigte verwenden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie durch diese Tools unterbrochen werden oder sich dazu verleiten lassen, mehrere Aufgaben parallel zu bearbeiten. Um die Informationsdichte und die Anforderungen zu bewältigen, schalten die meisten Beschäftigten in den Multitasking-Modus, um möglichst viel erledigt zu bekommen. Allerdings ist das menschliche Gehirn nicht dazu in der Lage, zwei oder mehr konzentrationsbedürftige Inhalte parallel zu bearbeiten. Auf der Strecke bleiben wichtige kognitive Kompetenzen wie Fehlererkennung oder Entscheidungsfindung sowie emotionale Ausgeglichenheit und Impulskontrolle. Die Folge: mehr Fehler und noch mehr Stress. Nach Schätzungen der BAuA entfallen jährlich 36,1 Mrd. Euro – das entsprach 2019 über ein Prozent des Bruttonationaleinkommens – auf stressbedingte Ausfallkosten. Mehr digitale Tools machen also nicht automatisch produktiver, sondern bergen die Gefahr, uns unproduktiver zu machen. In der Studie wurde deutlich, dass eine hohe Identifikation mit der Führungskraft eine stresssenkende Wirkung hat, allerdings stellten wir auch fest, dass der aus Fragmentierung und Multitasking resultierende Stress ein spezifischer Stress ist, der nicht über Identifikation und gute Führung kompensiert werden kann. Es braucht die Fragmentierung reduzierende Maßnahmen, um ihn zu minimieren. Dabei hat die Führungskraft natürlich eine Vorbildfunktion. Die Studie zeigt allerdings, dass Meeting-Intensität und Fragmentierung des Arbeitsalltags in der Hierarchie nach oben hin ansteigen.

Gehirngerechtes Arbeiten als Antwort

42,3 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland sind laut Statista den wissensintensiven Dienstleistungen zuzuordnen. Die Fragmentierung der (Wissens-)Arbeit stellt daher ein ernstzunehmendes Problem dar, insbesondere wenn wir über Innovation und Kreativität sprechen. Im Gegensatz zu den individuell ausgerichteten Selbst- und Zeitmanagementansätzen der vergangenen zehn Jahre, die auf das Individuum zielten, sind nun systemisch-integrierte Ansätze nötig, da es in der vernetzten Arbeitswelt mit ihrer wechselseitigen Abhängigkeit (z. B. in der Projektarbeit), nicht mehr ausreicht, wenn Einzelne gut organisiert sind. Denn schon ein einziges Teammitglied kann durch unproduktives Zeit- und Arbeitsverhalten, wie das Senden von zu vielen E-Mails an zu große Verteiler, ständig verspätetes Eintreffen bei Meetings, Kalenderüberbuchung etc. viele andere Menschen in ihrer Produktivität stören. Daher braucht es kollektive Prinzipien, die systemisch wirken. Nachfolgend werden ausgewählte Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) vorgestellt, das Unternehmen ermöglicht, systematisch konzentriertes und fokussiertes Arbeiten einzuführen. Das Modell wird als Framework eingesetzt und adressiert die relevanten Handlungsfelder innerhalb eines Unternehmens, um spezifische Lösungen zu finden, Arbeit gehirngerechter und fokussierter zu gestalten. Das Vorgehen gemäß TFC-Modell umfasst zunächst eine Standortanalyse, der drei Remote Sprints zur Diskussion und Vereinbarung von Maßnahmen folgen. Der Weg zu einer Focused Company wird begleitet durch ein Prozesshandbuch sowie die Ausbildung von Führungskräften und internen Coaches zu «hybrid gehirngerechter Führung». Nach ca. 18 Monaten wird die Wirksamkeit gemessen und ggf. nachgesteuert.

Fokuszeit im gesamten Unternehmen

Kernmaßnahme von TFC ist die Einführung einer zweistündigen kollektiven Fokuszeit, in der die gesamte Belegschaft aller Hierarchieebenen des Unternehmens bis auf die notwendigsten Kommunikationskontakte ungestört und konzentriert arbeiten kann (Starker & Schneider, 2020). Die zu bearbeitenden Inhalte der Fokuszeit werden selbstbestimmt festgelegt, sodass automatisch das Selbstwirksamkeitserleben erhöht wird. Dieses geht oft verloren, wenn Beschäftigte den Arbeitstag komplett fremdbestimmt verbringen müssen. Die Fokuszeit sollte idealerweise auf den Vormittag gelegt werden, weil dann der Cortisolspiegel in der Regel am höchsten ist. Studien bestätigen, dass Beschäftigte versuchen, in Meetings ihre Aufgaben abzuarbeiten, wenn längere Treffen am Vormittag keinen Raum für Konzentration lassen (Cao et. al, 2021). Diese Meetings sind daher deutlich unproduktiver. Wenn Beschäftigten und Führungskräften hingegen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre konzentrationsbedürftigen Aufgaben am Vormittag ungestört zu erledigen, bekommt der Tag eine stressfreiere Dynamik (Busch, 2021).

Fokussierter Einsatz digitaler Tools

Es ist nicht die Menge an Tools, die uns produktiv macht – im Gegenteil. Im Rahmen des TFC-Modells wird ein zielgerichteter und intelligenter Einsatz von Technik angestrebt. Gleichzeitig wird festgelegt, über welche Kanäle synchrone bzw. asynchrone Kommunikation geführt wird. Da dies unternehmensspezifisch ist, gibt es keine Blaupause. Jedes Unternehmen findet über die Anwendung des TFC-Modells als Framework eigene Lösungen.

Radikale Meeting-Inventur

Meeting- und E-Mail-Overflow haben viele Firmen längst als Problem erkannt und reflexhaft mit Regeln darauf reagiert: E-Mail-Regeln, Slack-Regeln, Meeting-Regeln etc. Hinterfragt man deren Wirksamkeit, erntet man allerdings Kopfschütteln. Unnötige Meetings frustrieren und demotivieren; umgekehrt zeigen Studien (Kauffeld & Lehmann-Willenbrock, 2012), dass eine hohe Effizienz von Meetings mit Unternehmenserfolgen korreliert. Um Meetings, insbesondere im hybriden Arbeiten, effizienter zu gestalten, braucht es eine kollektive Meeting-Inventur im gesamten Unternehmen. Das lässt sich nicht über Meeting-Regeln lösen, sondern nur über den unternehmerischen Entschluss, Wertschöpfung insgesamt fokussierter zu gestalten, denn die Meeting-Problematik liegt auf der Symptom- und nicht auf der Ursachenebene. Ob Meetings effizient durchgeführt werden, darf künftig nicht mehr dem Zufall oder den Kompetenzen Einzelner überlassen werden; ein unternehmensweites funktionsorientiertes Verständnis von Meetings ist unerlässlich und zentrale Führungsaufgabe.

Fokussierung der Initiativen

Viele Unternehmen starten mehrere Veränderungsprozesse parallel, wie z. B. Leitbildprozesse, agile Führung, New Work, digitale Transformation, Werteprozesse, betriebliches Gesundheitsmanagement, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig gibt es operative Initiativen, die isoliert davon ablaufen, u. a. in Vertrieb und Marketing. Das alles spaltet den Fokus und nimmt Energie, zumal diese Prozesse oft nicht in ein strategisches Gesamtkonzept integriert sind. Eine deutliche Reduzierung und Fokussierung der strategischen Initiativen, die in die Unternehmensstrategie übernommen werden müssen, lässt einen roten Faden entstehen und erhöht die Umsetzungswahrscheinlichkeit.

Neue Wertschätzungsanker

Überstunden machen, keine Pausen nehmen, ständig erreichbar sein und eine hohe (Meeting)-Präsenz – das wird von vielen Führungskräften als Engagement wahrgenommen und entsprechend wertgeschätzt. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das Gegenteil förderlich. Um eine hohe Produktivität, Kreativität und Innovationskraft zu fördern, sollten Führungskräfte die Grundmechanismen von gehirngerechter Führung kennen, die ebenfalls im TFC-Prozess vermittelt werden. Wertzuschätzen, wenn jemand regelmäßig seine Pausen nimmt, so effizient und effektiv arbeitet, dass selten Überstunden notwendig sind, und im Urlaub abschaltet, lässt eine Kultur entstehen, in der konzentriertes, produktives Arbeiten wichtiger ist als ständige Erreichbarkeit – und in der eine hohe Leistungsfähigkeit entsteht (Sonnentag, Venz & Casper, 2017).

Fazit

Arbeiten im digitalen Zeitalter muss gehirngerecht gestaltet werden. Hier setzt das TFC-Modell an, indem es in einem zeitlich sehr komprimierten Remote-Prozess eingeführt und maßgeblich autonom durch das Unternehmen gesteuert wird. Ausgangspunkt ist eine digitale Standortbestimmung, um die Veränderungserfolge gezielt messen zu können. Durch die sofortige Einführung der Fokuszeit wird die Veränderung unmittelbar für jeden positiv erlebbar, was erfahrungsgemäß dazu führt, dass der zu beobachtende Kulturwandel nicht mehrere Jahre dauert, sondern schon nach dem Durchlaufen des Prozesses erreicht wird.

 

 

Vera Starker
MBA, Wirtschaftspsychologin, Autorin und Co-Founderin des Berliner Think Tanks Next Work Innovation

Dr. Eva Bracht
Beraterin, Netzwert Partner GmbH

Dr. Katharina Roos
Expertin für Unternehmensbefragungen, Geschäftsführerin Netztwert Partner GmbH

Prof. Dr. Rolf van Dick
Professor für Sozialpsychologie, Wissenschaftlicher Direktor des «Center for Leadership and Behavior in Organizations» (CLBO) und Vizepräsident an der Goethe Universität Frankfurt

 

Literatur

• Busch, V. (2021). Kopf frei. Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen, 153-154.
• Cao et. al (2021). Large Scale Analysis of Multitasking Behavior During Remote Meetings, Proceedings of the 2021 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems.
• Kauffeld, S. & Lehmann-Willenbrock, N. (2012). Meetings Matter: Effects of Team Meetings on Team and Organizational Success, Small Group Research, 43(2), 130-158.
• Sonnentag, S., Venz, L. & Casper, A. (2017). Advances in recovery research: What have we learned? What should be done next? Journal of Occupational Health Psychology, 22(3), 365-380.
• Starker et. al (2022). Kosten von Arbeitsunterbrechungen für deutsche Unternehmen. Auswirkungen von Fragmentierung auf Produktivität und Stressentwicklung. Wissenschaftlicher Beirat der Studie: Prof. Dr. Volker Busch und Prof. Dr. Rolf van Dick.
• Starker, V. & Schneider, M. (2020). Endlich wieder konzentriert arbeiten! Wertschöpfung im digitalen Zeitalter wirklich, wirklich neu denken. The Focused Company. New Work-Book für Unternehmen, Rossberg.


Jugend macht Zukunft

Die Veränderungskraft der jüngeren Generationen

Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung als Jugendforscher hat unsere Redakteurin Dr. Brigitte Winkler mit Professor Dr. Dr. h.c. Hurrelmann darüber gesprochen, welche Veränderungen durch die besonderen Charakteristika der nachfolgenden Generationen Y und Z für Organisationen und Gesellschaft erwartbar sind.

ZOE: Herr Prof. Hurrelmann, seit vielen Jahren erforschen Sie die Werte und Einstellungen nachkommender Generationen. In Ihrem letzten Buch «Generation Greta» betonen Sie: «Jugendforschung ist Zukunftsforschung. Lange bevor Entwicklungen die gesamte Gesellschaft erfassen, sind sie schon aus Jugendstudien herauszulesen». In diesem Gespräch möchten wir mit Ihnen extrapolierend in die Zukunft schauen, um besser zu verstehen, welche Veränderungen von nachfolgenden Generationen zu erwarten sind. Wenn Sie kurz die Unterschiede zwischen den Millennials (Generation Y) und den Post-Millennials (den nach der Jahrtausendwende Geborenen) beschreiben müssten? Was sind die Besonderheiten beider Generationen? Worin unterscheiden sie sich?

Hurrelmann: Es ist interessant zu sehen, dass sich innerhalb so kurzer Zeit die Lebensbedingungen, und damit ja auch die prägenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen und technischen Ausgangsbedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung stark geändert haben. Zusammengefasst kann man sagen, dass wir eine deutliche Wende in der Mentalität einer jungen Generation vorfinden. Die Jahre um die Jahrtausendwende herum stellen eine generationale Wasserscheide dar. Wer davor geboren wurde, lebte in unsicheren Zeiten, die  Generation Y noch deutlicher als die Generation X, die der Baby Boomer-Generation folgte, die zwar wirtschaftliche Unsicherheit erfuhr, aber noch einigermaßen ökonomisch abgesichert war. Die Generation Y (d. h. die ca. zwischen den Jahren 1980 und 2000 Geborenen)  erlebte zahlreiche Krisen: die Anschläge in New York, den GAU im Atomkraftwerk von Fukushima und – sehr wichtig für junge Leute – die Wirtschaftskrise. Für jede Generation ist es ganz entscheidend für ihre Zukunftssicht, wie die beruflichen Perspektiven sind. Für die Generation Y war diese Perspektive sehr unsicher und vernebelt.

ZOE: Was hat sich denn in so kurzer Zeit für die unter 25-Jährigen verändert?

Hurrelmann: Sie mussten zwar die Corona-Krise in ihrer Ausbildungsphase beim Übergang in den Beruf ertragen und jetzt auch noch den Krieg in der Ukraine, jedoch – und das ist ganz entscheidend – sie haben keine wirtschaftlichen Sorgen. Ihre beruflichen Chancen sind sehr gut. Das liegt zum einen an der konjunkturellen Lage, zum anderen daran, dass sie vom Austritt aus dem Berufsleben der Baby-Boomer-Jahrgänge profitieren. Das waren Jahrgänge von 1,4 Millionen Kopfstärke. Heute haben wir Jahrgänge von maximal 750.000 pro Kopf in Deutschland. Davon profitieren die Jüngsten. Waren die vor dem Jahr 2000 Geborenen noch Krisenkinder mit beruflicher Unsicherheit und dementsprechend zu opportunistischen, karrieretaktischen Verhaltensweisen angehalten, hat sich nach der  Jahrtausendwende viel  geändert. Die heutige Generation Z erlebt zwar eine dichte Folge von existenziellen Krisen, was an die Psyche geht, jedoch sind die beruflichen Chancen groß. Auch der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine hat daran bisher nichts geändert und es sieht nicht so aus, als könnte das noch passieren. Aus unseren früheren Generationsstudien können wir entnehmen, dass eine Generation, wenn sie wirtschaftlich den Rücken frei hat, sich ihrer Position in der Gesellschaft bewusst wird. Daher agiert die Generation Z so politisch, wie wir es schon lange nicht mehr gehabt haben.

ZOE: Welche Veränderungen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, ökologischer, politischer Hinsicht werden von beiden Generationen (Z und Y) Ihrer Meinung nach ausgehen, je mehr diese in der Arbeitswelt und in politischen und gesellschaftlichen Funktionen Fuß fassen? Was ist schon jetzt absehbar?

Hurrelmann: Sie haben völlig Recht, für viele Aspekte gelten die folgenden Ausführungen nicht nur für die Generation Z, sondern auch für die vor dem Jahr 2000 Geborenen der Generation Y, weil sich die wirtschaftliche Situation im Laufe der Berufsjahre für sie selbstverständlich auch deutlich gebessert hat und sie mittlerweile das Gefühl haben, am Arbeitsmarkt gebraucht zu werden. Grundsätzlich wünschen sich alle unter 30-Jährigen einen guten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie reagieren empfindlich auf einen Bruch von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, z. B. während der Corona-Pandemie, wenn sich Gruppen nicht an Regeln halten. Sie sind in ihrem persönlichen Leben durchaus familienfreundlich; sie wollen eine Familie gründen, obwohl sie merken, wie schwierig das ist. Die Motivation für eine Familiengründung ist jedoch bei jungen Frauen deutlich höher als bei den jungen Männern. In jeder jungen Generation ist dieser Wunsch bei 75 Prozent da. Bei den unter 35-Jährigen ist er jedoch noch stärker damit verbunden, dass sie hohe Erwartungen an ihre Lebens- und Arbeitsqualität setzen. Sie wollen einen Arbeitsplatz, der sinnvoll ist, der Spaß macht, Sicherheit und ein gutes Gehalt bietet und der auf ihre ganz persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Unter den Krisenbedingungen wurden materielle Faktoren nochmals bedeutsamer. Die Vereinbarkeit von privatem und beruflichem Leben ist ein ganz starkes Motiv, das von diesen jungen Leuten ausgeht.

Die Jüngeren setzen in allen Bereichen gesellschaftlich, wirtschaftlich, ökologisch und politisch neue Akzente.

Da die jüngeren Generationen digital groß geworden sind, prägt das ihre gesamte Mentalität im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Denken. Sie gehen davon aus, dass im Grunde alles über digitale Plattformen machbar ist und schauen irritiert auf die ältere Generation, die sich das so gar nicht vorstellen kann. Zugleich haben sie eine eingebaute Burn-out-Sperre und möchten nicht, dass der Beruf durch die digitale Erreichbarkeit in ihr Privatleben zu stark eingreift und das Privatleben vom Berufsleben «drangsaliert» und eingeschränkt wird.

Ökologisch ist die Generation Z sehr aktiv. Fast 40 Prozent der jungen Leute unter 25 halten beispielsweise die Fridays for Future-Bewegung für sehr bedeutsam. In ihrem Alltagsleben und auch bei der Berufs- und Arbeitswahl spielen ökologische Kriterien des Klimaschutzes eine enorme Rolle. Sie fordern kollektive Unterstützung durch politische Entscheidungen, um ihr eigenes Leben in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Nutzung von wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen Ressourcen ökologisch sinnvoll steuern zu können. Damit sind sie politisch gesehen eine sehr, sehr anspruchsvolle junge Generation, die den Eindruck hat, dass die politischen Machthabenden sie übersehen, auf ihre Interessen nicht sorgfältig genug eingehen, sie teilweise sogar ignorieren. Demzufolge besteht eine Distanz zu den großen, etablierten Parteien, die für sie bürokratische Machtapparate sind. Sie präferieren flexible, überschaubare Strukturen. Deswegen treten sie lieber einer Bewegung als einer Partei bei. Damit setzen die Jüngeren in allen Bereichen gesellschaftlich, wirtschaftlich, ökologisch und politisch neue Akzente. Sie unterscheiden sich stark von den «Macher-Jahrgängen» der Baby Boomer, die jetzt aus dem Berufsleben ausscheiden und die alles – wie beispielsweise die demokratischen Prozesse und Unternehmen – aufgebaut und strukturiert haben, wie sie heute sind. Noch immer stellen sie in vielen Organisationen etwa 50 Prozent der Belegschaft dar und wissen, wie man Macht ausübt. Sie haben Erfahrung und Einfluss, aber kommen definitiv aus einer anderen Welt und denken anders. Und diese Unterschiedlichkeit erzeugt auch in Unternehmen Spannungen zwischen den Generationen.

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Klaus Hurrelmann – Biografie

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann wurde 1944 geboren und studierte in Berkeley, Münster und Freiburg. Er ist Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Jugend-, Bildungs- und Gesundheitsforschung. Er wurde 1975 zum Professor an der Universität Essen ernannt und wechselte 1979 an die Universität Bielefeld. Seit dem Jahr 2009 arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Er ist Senior Expert am Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS). Hurrelmann leitete mehrere Familien-, Kinder- und Jugendstudien, zuletzt zur Berufsorientierung und zum Finanzverhalten von jungen Erwachsenen. Er gehört seit dem Jahr 2002 dem Leitungsteam der Shell Jugendstudien an und begründete die World Vision Kinderstudien. Er hat zahlreiche Lehr- und Handbücher in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht. Mit dem Journalisten Erik Albrecht hat er 2020 das Buch «Generation Greta» geschrieben, das 2021 in englischer Adaption unter dem Titel «Gen Z Between Climate Crisis and Coronavirus Pandemic» erschienen ist.

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ZOE: Viele Führungskräfte bemängeln, dass die jüngeren Generationen einerseits anspruchsvoll sind, was ihre Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten betrifft, jedoch gleichzeitig nicht bereit sind, metaphorisch gesprochen auch mal die «Extra-Meile» zu gehen. Ist das aus Ihrer Sicht nur ein Vorurteil oder spiegelt sich das auch in Ihren Erhebungen?

Hurrelmann: Die Generation der Baby Boomer, deren Denk- und Arbeitsweise in Unternehmen und Politik noch stark dominieren, steht irritiert und fassungslos davor, wie diese jüngeren Generationen sich ein Arbeitsleben vorstellen. Sie beobachten kein Durchhaltevermögen, keine Bereitschaft, das Privatleben zurückzustellen, wenn mal im Berufsbereich etwas Dringliches ansteht, wenig Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen oder gar Überstunden zu machen, um den Anforderungen des Arbeitsalltags gerecht zu werden. Das ist natürlich für die disziplinorientierten, arbeitsbewussten, fleißigen und ehrgeizigen Baby Boomer ein Unding. Sie können mit dieser Haltung überhaupt nichts anfangen und glauben, dass dadurch die weitere wirtschaftliche Entwicklung ihres Unternehmens gefährdet ist. Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Einstellung bei den jungen Leuten da ist. Gleichzeitig muss man sich immer klarmachen, dass die Arbeitsweise in den Unternehmen durch die nach wie vor dominierende Baby Boomer-Generation geprägt wird. Und die jungen Leute wollen sich hiervon absetzen. Sie wollen nicht den gleichen Lebensrhythmus und Lebensstil haben, sondern eine größere Lebensqualität. Da sie zwar in Krisenkonstellationen groß geworden sind, jedoch trotzdem nie in eine wirtschaftliche Existenzkrise geraten sind und jetzt auch deutlich ihre Chancen spüren, sind sie in dieser für uns Älteren erscheinenden verwöhnten Position und können sich das auch leisten. Das bedeutet für Unternehmen, dass sie darauf eingehen und die jungen Leute da abholen müssen, wo sie stehen. Das heißt, ihre Verhaltensweisen erst einmal so zu akzeptieren, um sie an das Unternehmen heranzuführen und zu vermitteln, wie das Unternehmen im Kern tickt. Ihre Bereitschaft, sich durch den Sinn der Arbeit faszinieren zu lassen, ist da. Sie interessiert, wofür das Unternehmen steht und was zur Herstellung des Produkts oder der Dienstleistung nötig ist. Wenn es gelingt, dass der Funke überspringt und jüngere Mitarbeitende die Chance erhalten, einen Teil mitzugestalten oder noch besser neu zu gestalten, dann sind die Stärken der jüngeren Generationen, wie z. B. ihre digitale Affinität, Multitaskingfähigkeiten und dass sie bestimmte neue Kommunikationsformen flexibel bedienen können, gut nutzbar. Dann verändern sie ihre verwöhnte Komforthaltung und lassen sich auf das Unternehmen ein.

ZOE: In gewisser Weise reflektiert die Lebens- und Arbeitseinstellung der jüngeren Generationen das, was sich der Großteil der Menschen ebenfalls wünscht. Sinnvolle Arbeit, die Spaß macht, die auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist und sich gut mit dem Privatleben vereinbaren lässt. Jedoch, die Realität stellt sich anders dar. Erträge müssen erwirtschaftet werden. Die (digitale) Infrastruktur der Organisation, die jüngere Generationen mit Berufseintritt mitnutzen können, muss erst einmal aufgebaut werden. Ohne die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, entstehen auch keine verbindlichen Strukturen usw. Wie stellt sich die jüngere Generation den Aufbau, Erhalt und die zukunftsfähige Weiterentwicklung von Organisationen vor. Was ist deren Gegenmodell?

Hurrelmann: Es gibt kein ausgearbeitetes Gegenmodell, sondern Wunschvorstellungen von der eigenen Arbeits- und Lebensgestaltung: Etwas zu machen, was den persönlichen Neigungen entspricht, was Sinn macht, was Erfüllung bringt und gleichzeitig eine passable wirtschaftliche Existenz sichert. Zugegebenermaßen kann das weit von dem entfernt sein, wie zurzeit die Arbeitsstrukturen sind. Daher ist es so wichtig, jüngere Mitarbeitende dahin zu führen, worum es im Unternehmen im Kern geht. Dann kann sich an dieser Einstellung auch etwas verändern. Dadurch kann die durchaus vorhandene Bereitschaft der jüngeren Generationen abgerufen werden, etwas zu tun, was ihnen persönlich auf den Leib geschneidert ist. Sie haben sich ja meist sehr bewusst für einen Beruf entschieden, der ihren ganz persönlichen Interessen und Neigungen entspricht. Gleichzeitig wittern sie überall Fremdbestimmung. Sie haben den Eindruck, dass nicht ihre Maßstäbe zählen, sondern die Maßstäbe von den Älteren, die als Sachzwänge dargestellt werden. An Sachzwänge glauben sie zunächst nicht, sondern sie gehen von der kühnen Vorstellung aus, dass man auch alles anders machen könnte.

ZOE: Basierend auf Ihren Forschungen: Hält mit den jüngeren Generationen Y und Z auch eine andere Arbeitskultur und Einstellung zu Leistung und Verantwortung in die Arbeitswelt Einzug? Welche mentalen Modelle zur Gestaltung von Führung und Zusammenarbeit prägen Ihren Erkenntnissen nach diese jüngeren Generationen?

Hurrelmann: Für die jüngeren Generationen ist alles Digitale völlig selbstverständlich. Und das Potenzial dieser Haltung darf man nicht unterschätzen. In der digitalen Welt bewegen sich die jungen Leute mit Unbefangenheit, Intuition und Spaß, teilweise auch schon mit soliden digitalen Kompetenzen, die sie sich einfach durch die rege Nutzung der digitalen Anwendungen schon angeeignet haben. Wenn dann durch Weiterbildung noch mehr digitale Kompetenztiefe erlangt werden kann, ist das eine wichtige Investition, um die Digitalisierung in Organisationen voranzutreiben. Auch bringen sie einen viel kollegialeren Umgang miteinander mit. Sie wünschen sich ein gutes Betriebsklima ohne Hierarchien, mit entspannten Umgangsformen, so wie sie es durch ihre digitalen Interaktionen gewöhnt sind. Sie würden sich, wenn sie das selbst entscheiden können, für die Ansprache per Du entscheiden, die aber symbolisch bedeutet, wir sind gleich, wir arbeiten auf einer Ebene. Die Kehrseite davon ist, dass die Bereitschaft, in den traditionellen Mustern Karriere zu machen, gering ist. Hier ist zu überlegen, wie sich Führungskräfte in dieser jüngeren Generation entwickeln können, wenn ein starkes Kollegialitätsprinzip, basisdemokratische Vorlieben und eine deutlich zu erkennende Hierarchiephobie die Einstellung prägen. Man möchte im Team arbeiten, darin seine eigene Rolle haben und wichtig genommen werden – sozusagen vom ersten Tag an, ohne sich eingearbeitet zu haben. Das ist das Anmaßende da dran.

ZOE: Was würden Sie nun Führungskräften für den Umgang mit den jüngeren Generationen empfehlen? Wie kann der Einarbeitungsprozess gestaltet werden, denn es ist ja unzweifelhaft, dass auch diese Generation beim Eintritt ins Berufsleben noch nicht alles kann.

Hurrelmann: Es ist wichtig, die jüngeren Kolleg*innen an ihre Rolle heranzuführen. Jedoch darf das nicht den Charakter haben von etwas «beibringen», so nach dem Motto – «ich erkläre dir, wie das hier läuft, denn du hast keine Ahnung». Das wird von den jungen Leuten nicht akzeptiert. Da fühlen sie sich fremdbestimmt, denn sie sind digital groß geworden und konnten sich vieles selbst erarbeiten. Sie sind es eben nicht gewohnt, dass ihnen jemand sagt, was zu tun ist oder wie man etwas macht, sondern sie haben die Fähigkeit, sich das selbst zu erschließen. Daher sollte man sie mitnehmen und dazu einladen, dass sie sich etwas erarbeiten. «Wir stehen hier vor folgenden Herausforderungen. Wir haben das bisher so gelöst, wir wissen nicht, ob es vielleicht auch anders zu lösen ist, du bist eingeladen, daran mitzudenken, ich erkläre dir wie wir es bisher gemacht haben. Wir sind jedoch für alles offen, wenn wir merken, dass wir umgestalten müssen, und du bist eingeladen, mit nachzudenken.» Das zu beschreiben, was zu erarbeiten ist, das wäre die Aufgabe einer Führungskraft.

ZOE: Spricht man mit älteren Führungskräften, so schildern diese ihre Beobachtung, dass die junge Generation zwar Feedback möchte, dabei jedoch unheimlich Feedback-sensibel ist. Man müsse sehr aufpassen mit Kritik und kann auch nicht alles sagen, was verbesserungswürdig wäre. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?

Hurrelmann: Auch hier hilft zum besseren Verständnis dieser Verhaltensweisen, sich typische Generationsmuster bewusst zu machen. Viele der jüngeren Generationen, und hier vor allem Jungen, haben intensiv Zeit mit Videospielen verbracht, die einen bestimmten Aufbau haben. Man durchläuft bestimmte Aufgabenläufe, bekommt Rückmeldung und einen Anreiz, wie man in die nächste Runde kommt, um die nächste Herausforderung zu bewältigen. Das alles läuft spielerisch ab und gleichzeitig im Wettbewerbsszenario, was das Durchhalten erleichtert. Jedoch im Kern ist das völlig anders als bei den über 45-Jährigen, die gelernt haben, solange an einer Sache dran zu bleiben, bis der Erfolg eintritt. Je mehr man daher von diesen Gamificationprinzipien in den Unternehmensablauf einbeziehen kann, desto eher erreicht man die jüngere Generation. Natürlich geht das nicht an jedem Arbeitsplatz, aber was spricht dagegen, mit entsprechenden Anreizen und Feedback-Methoden das Interesse und Durchhaltevermögen zu steigern?

ZOE: Also lieber Challenges kreieren als über Beurteilungssysteme zu gehen?

Hurrelmann: Ja, absolut. Rückmeldungen zu dem zu erhalten, was man kann und was noch nicht, sind durchaus beliebt. Aber nicht durch Vorgesetzte, die einem das sagen, sondern erneut durch die Möglichkeit, sich das in Eigenaktivität selbst zu erarbeiten. Beispielweise durch das Angebot von unabhängigen Potenzialanalysen, die dieses Feedback ermöglichen und zugleich bei Bedarf ein Beratungsangebot bereithalten, wie Stärken weiterentwickelt und Schwächen ausgeglichen werden können. So muss das angelegt sein. Demgegenüber findet die Rückmeldung des Vorgesetzten auf der Hierarchieebene statt, gilt daher nicht selbst erschlossen und wird schnell abgelehnt.

ZOE: Wie können Unternehmen die jüngeren Generationen beim Einstieg in den Beruf unterstützen bzw. was macht Unternehmen für die jüngere Generation besonders attraktiv?

Hurrelmann: Grundsätzlich kann man aus allen Studien ablesen, dass die jüngeren Jahrgänge den eigenen Eltern gegenüber sehr zugewandt sind. Das überträgt sich auch auf die mittlere Generation. Zu den Eltern bleibt ein sehr enges Verhältnis bestehen, selbst wenn man nicht mehr zusammenlebt. Die Eltern werden zu den wichtigsten Berater*innen. Es wird keine Berufsentscheidung, keine Karriereentscheidung, keine Weichenstellung im Leben ohne die Eltern getroffen. Bei der derzeitigen Vielfalt von Optionen, jedoch auch vor dem Hintergrund der starken psychischen Belastungen und Unsicherheiten, möchte man als junger Mensch sich mit jemandem beraten, der nicht parteiisch ist. Und genauso werden die Eltern gesehen: Sie denken aktiv für einen mit, «schwätzen einem nichts auf» und spielen daher eine ungeheuer wichtige Rolle. Unternehmen sind gut beraten, das mit im Auge zu haben. Eventuell lohnt es sich sogar, mit den jungen Leuten offen darüber zu reden, ob die Eltern in wichtige Zusammenhänge einbezogen werden sollen. Dies weitergedacht könnten Unternehmen ihre Attraktivität erhöhen, wenn sie unparteiische und freiwillige Beratungsangebote für das Management von schwierigen Situationen offerieren. Diese müssen jedoch ohne moralischen Unterton und nicht von oben herab gestaltet sein. Schließlich müssen die jungen Menschen, die in einer komplexen gesellschaftlichen Situation groß geworden sind, existenzielle Krisen wegstecken. Das tun sie auf ihre Weise auch tapfer, aber das hinterlässt natürlich Spuren. Hier gibt es schon Modelle, wo Unternehmen für eine Pauschalgebühr Beratungsleistungen von einem neutralen dritten Anbieter einkaufen. Das wird sehr wertgeschätzt, weil eben der Beratungs- und Unterstützungsbedarf hoch ist, man jedoch als junger Mann oder junge Frau im Unternehmen das nicht so ohne weiteres findet oder manchmal auch gar nicht erst sucht. Es kommt eine sehr sehr innovative, offene, aber durch ihre Eltern sehr verwöhnte junge Generation in die Unternehmen, die jedoch Unterstützung benötigt. Wenn das ein Unternehmen glaubwürdig und ohne direkte Verbindung mit dem Arbeitserlebnis anbieten kann, dann wird das unter Garantie von den jüngeren Mitarbeitenden sehr gewürdigt und das Unternehmen kann hier punkten. Das gilt übrigens ebenso für Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade junge Frauen, die inzwischen ja als Leistungsträgerinnen angesehen werden und teilweise von ihren Ausbildungsabschlüssen her erheblich besser sind als die jungen Männer, schätzen diese Komponente außerordentlich. Und da jedes Unternehmen möglichst viele von diesen kreativen jungen Frauen attrahieren möchte, hebt das Angebot der Vereinbarkeit von Familie und Beruf natürlich die Arbeitgeberattraktivität für diese Zielgruppe.

ZOE: Sie hatten vorhin bereits mögliche Spannungen zwischen Generationen angesprochen. Auf Basis Ihres Verständnisses der jüngeren Generationen, an welchen Stellen denken Sie denn, dass sich Konflikte entwickeln könnten?

Hurrelmann: Wir sehen in allen Studien, dass die junge Generation zwar gegenüber Älteren sehr aufgeschlossen ist, jedoch teilweise kein Verständnis für deren typische Grundhaltungen hat. Baby Boomer und junge Menschen unter 35 sind in sehr unterschiedlichen Welten groß geworden. Und entsprechend ist die gegenseitige Toleranz bei manchen Haltungen nicht mehr gegeben. Hier liegen die größten Spannungen, die auch in Unternehmen beachtet werden müssen. Die beiden Generationen eint zwar, dass sie jeweils gute Berufschancen hatten, jedoch unter völlig anderen Bedingungen, ohne die digitale Flexibilität und die damit verbundene Eigenständigkeit, die von den jüngeren Generationen immer wieder eingefordert wird. Man will sich Dinge selbst erarbeiten und andere sollen gefälligst nicht sagen, wie man das macht, sondern allenfalls Hinweise geben und coachen, aber nicht vorschreiben, wie es zu machen ist. Und da sind die Baby Boomer, die – weil sie eben alles aufgebaut haben, weil sie wissen, wie man es macht – keine guten Ratgeber*innen. Zumal die Baby Boomer auch vieles nicht nachvollziehen können, wie z. B. die mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer, die Nicht-Bereitschaft, Privatleben zurückzustecken zugunsten des Unternehmens und so weiter. Das beinhaltet alles Potenzial für Spannungen. Das ist eine Herausforderung, der sich ein Unternehmen stellen muss. Wenn die Baby Boomer jetzt schrittweise aus dem Beruf aussteigen, schwindet ihre Macht und dadurch die Definition dessen, was im Unternehmen zählt. Mit dem unvermeidlichen Effekt, dass dann die jüngere und mittlere Generation zunehmend in die Verantwortung kommt und am Ende natürlich auch an ihrer erfolgreichen Führung von Organisationen und an den Ergebnissen gemessen werden wird. Diese unterschiedliche generationale Lagerung taucht in jedem Unternehmen, aber natürlich auch in der Politik auf.

ZOE: Ihr letzter Gedanke in Ihrem Buch «Generation Greta» lautet: «Wer die Generation Greta ernstnimmt, kommt nicht umhin zu denken, hätten wir doch früher auf sie gehört, denn das Klima ist erst der Anfang.» Was macht Sie hoffnungsvoll bezüglich der Veränderungskraft der nachfolgenden Generationen?

Hurrelmann: Es macht mich hoffnungsvoll, dass die junge Generation Themen betont, die in jedem Management-Lehrbuch als zukunftsweisend gelten: der intuitiv offene Zugang zur Digitalisierung, die Ablehnung von formalistischen Hierarchien, der kollegiale Umgang, die Betonung von Betriebsklima, Eigeninitiative, Sinnsuche und persönlicher Beteiligung am Arbeitsprozess. Jeder Mitarbeitende ist anders, und als Führungskraft muss man auf diese unterschiedlichen Stärken und Schwächen eines Menschen eingehen und den richtigen Platz für die Menschen im Unternehmen suchen. Genau das wollen diese jungen Leute ja erreichen, jedoch wehren sie sich dagegen, wenn ihnen das in einer frühen Phase, in der sie noch Novizen sind, nicht zugestanden wird. Und das ist vielleicht auch das Missverständliche.
Wenn wir jedoch in der Lage sind, souverän auf sie zu hören und sie so beteiligen, wie wir das im Gespräch hier an mehreren Beispielen diskutiert haben, dann kann das nur zum Vorteil des Unternehmens sein. Angehörige einer jungen Generation haben natürlich einen ganz anderen Blick auf die Zukunft, und sie reflektieren und spüren mit ihrer Grundhaltung in gewisser Weise seismographisch, welche Entwicklungen kommen und wichtig sind. Gut gefiltert dies bei Entscheidungen zu berücksichtigen und in den Unternehmensalltag einfließen zu lassen, wird das den Unternehmen nicht schaden. Und da die jungen Frauen, ich habe es schon angedeutet, bei den Jüngeren besonders dominieren, ist das auch immer damit verbunden, dass man sensibel auf ihre Einschätzungen und Akzente achtet. Auch das hat Unternehmen noch nie geschadet. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass eine stärkere Beteiligung von Frauen am betrieblichen Leben, auch in die Führungsetagen hinein, einem Unternehmen sehr gut bekommt.

ZOE: Woraus zieht die jüngere Generation ihre Veränderungskraft?

Hurrelmann: Diese speist sich aus dem Willen, dass sie ihre Idee von einem sinnvollen und nachhaltigen Leben und Arbeiten umsetzen kann. So utopisch und so realitätsfern das aus heutiger Sicht erscheint – diese Vision kann für Unternehmen und die Gesellschaft neue, wichtige Entwicklungsimpulse hervorbringen.

ZOE: Herr Professor Hurrelmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann
Professor of Public Health and Education, Hertie School of Governance

 

Literatur:

Hurrelmann, K. & Albrecht, E. (2020). Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Beltz.
Schnetzer, S. & Hurrelmann, K. (2022). Jugend in Deutschland – Trendstudie Sommer 2022. Jugend im Dauerkrisen-Modus – Klima, Corona, Krieg. Datajockey.