Die neue Impact Economy

Eine wachsende Bewegung von Unternehmen macht Nachhaltigkeit und Enkelfähigkeit zum neuen Paradigma der nächsten Wirtschaft

Es gibt sie: die Unternehmen, die Impact erzeugen – und Unternehmensführungen, welche Verantwortung in einer ökologischen sozialen Marktwirtschaft übernehmen. Sie sind Vorboten einer nächsten Wirtschaft, die konsequent auf die konkreten Probleme der Menschheit ausgerichtet ist: Die sogenannte Impact Economy denkt Herausforderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt radikal neu.

Impact Economy bedeutet die Gestaltung einer Wirtschaft, in der es nicht darum geht, zu gewinnen oder zu verlieren, sondern möglichst lange mitzuspielen. Die planetaren Grenzen setzen den Rahmen für ein wertorientiertes Wirtschaften. Geld verdienen ist dann primär ein Mittel für das, was wirklich zählt: ein gutes Leben für alle – Menschen und Umwelt. Ein Modell für die Erfassung des Impacts liefert die Wirkungstreppe (Abbildung 1).

Dies sind die wichtigsten Wegbereiter dieser nächsten Ökonomie:
Impact Investing: Nachhaltiges Investieren, das auf direkte, messbare gesellschaftliche und ökologische Wirkungen zielt. Ausschlaggebend sind die ESG-Kriterien: Environmental (ökologische Nachhaltigkeit), Social (soziale Nachhaltigkeit) und Governance (nachhaltige Unternehmensführung). In Deutschland stieg das Vermögen nachhaltiger Fonds zwischen 2017 und 2021 von 83 Euro auf 361 Milliarden Euro an, global von 2,1 auf 4,1 Billionen Euro (vgl. Handelsblatt 5.11.2021).
Impact statt Exit: Die Start-up-Szene wird enkelfähig, viele Gründende haben das Streben nach möglichst schnellem Wachstum satt. Der Begriff des Einhorns für Unternehmen, die eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar erreichen, wurde überstrapaziert. Schon 2017 formulierten vier Gründerinnen deshalb die alternative Idee des Zebras: «Zebras fix what Unicorns break» (vgl. Brandel et al. 2017). Bereits seit 15 Jahren verfolgt der Impact Hub in Wien das Ziel «Building better Business»: Die weltweit mehr als 100 Impact Hubs unterstützen Sozialunternehmen, die sich an sozialen und ökologischen Werten orientieren (impacthub.net). In Deutschland hat sich die noch junge Impact Factory zu einem europäischen Hot Spot für Impact Start-ups entwickelt (impact-factory.de).
Gemeinwohlökonomie (GWÖ): Die GWÖ beschreibt eine neue, nachhaltige Wirtschaftsform, geleitet von der Vision «Gut leben in einer Welt, in der die Wirtschaft im Einklang mit ethischen Werten ist». Unternehmen oder Organisationen, die nachhaltig und sozial wirtschaften, können ihr Wirken mit der Gemeinwohl-Matrix messen und in einer Gemeinwohl-Bilanz publizieren – mehr als 2.000 Organisationen tun dies bereits (ecogood.org).
B Corporations: Das «B Corp Movement» ist eine wachsende globale Bewegung von Unternehmen, die seit 2006 eine nachhaltige, soziale und faire Zukunft vorantreiben (bcorporation.net). Inzwischen gibt es mehr als 4.500 zertifizierte B Corporations in mehr als 65 Ländern, darunter bekannte Marken wie Patagonia, The Guardian, Danone Waters, Alpro oder Sympatex. Sie alle teilen die Ansicht, dass Unternehmertum verpflichtet, indem sie ihren sozialen und ökologischen Impact regelmäßig messen und kontinuierlich verbessern.
Value Balancing Alliance: Die Initiative, die auf eine Kooperation der Konzerne BASF, Bosch und Novartis mit den Universitäten Oxford und Harvard zurückgeht, vereint multinationale Unternehmen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: die Übersetzung von ökologischen und sozialen Auswirkungen in vergleichbare Finanzdaten – Kennzahlen, die klassische Unternehmensbilanzen bislang nicht widerspiegeln können (valuebalancing.com).
Das Geno-Prinzip: Eine altbekannte Organisationsform hat den Impact-Faktor von Beginn an eingebaut – die Genossenschaften. Das Geno-Prinzip lautet: Was einer allein nicht schafft, können viele zusammen schaffen. Genossenschaften stehen als Wertegemeinschaften ihrer Mitglieder für kooperatives und solidarisches Wirtschaften in Reinkultur. Werte wie Selbstverantwortung, Demokratie, Ehrlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Vertrauen spielen eine zentrale Rolle – und klingen wie eine Blaupause für die Idee des enkelfähigen Wirtschaftens. Kein Wunder, dass Genossenschaften heute eine Renaissance erleben. 2016 zeichnete die UNESCO die Genossenschaftsidee und -praxis als immaterielles Kulturerbe der Menschheit aus. Weltweit gibt es heute rund drei Millionen Genossenschaften mit mehr als einer Milliarde Mitglieder (in Deutschland sind es rund 7.800 Genossenschaften mit 22,7 Millionen Mitgliedern). Global schaffen Genossenschaften über 100 Millionen Arbeitsplätze – 20 Prozent mehr als multinationale Konzerne.
Die beschriebenen Bewegungen sind nur einige von zahlreichen Impact-Initiativen – die Liste lässt sich ergänzen z. B. durch die Entrepreneurs for Future (denen sich mehr als 5.000 Unternehmen angeschlossen haben, entrepreneurs4future.de), die Leaders for Climate Change (mehr als 1.500 Unternehmen, lfca.earth), Climate Pledge (theclimatepledge.com) oder die Stiftung 2° – Deutsche Unternehmen für Klimaschutz (stiftung 2grad.de). Alle diese Beispiele zeigen, dass die Impact Economy bereits Realität ist. Sie wächst und sie steckt an, indem sie Menschen und Unternehmen begeistert, Verantwortung für nachhaltige Zukunftsfähigkeit zu übernehmen.

Der Übergang zu enkelfähigem Wirtschaften

Die gute Nachricht der Impact Bewegung ist oben skizziert. Die weniger gute Nachricht: es sind noch viel zu wenige Unternehmen, die sich nachhaltig auf den Weg gemacht haben. Jahrzehnte nach dem Big Boom des Konsumkapitalismus geraten wir in eine neue Phase, in der sich der unternehmerische Beziehungsradius erweitert. Eine neue Beziehung des Kapitals zu Gesellschaft, Natur und Individuen entsteht, eine neue Ausrichtung von Innovationen – die nun einen echten Beitrag zur Lösung von Problemen liefern können und müssen, die früher der Politik oder der Gesellschaft zugeschrieben wurden.

«Die Neuformung von Wirtschaft und Gesellschaft muss zeitnah passieren.»

Die Neuformung von Wirtschaft und Gesellschaft ist notwendig und sie muss zeitnah passieren. Sie gleicht einer Metamorphose: es ist der Sprung auf eine neue Ebene, in einer völlig neuen Umwelt, mit völlig neuen Bewertungskriterien. Um diese Transformation zu schaffen, muss es uns gelingen, die Übergänge (Transitionen) auf das nächste Level zu gestalten. Denn das große Ziel ist zwar klar, wie wir dort hinkommen vielen jedoch noch nicht. Dafür stellt dieser Beitrag das Impact Business Design vor, ein systemisches Vorgehensmodell, welches hilft, nachhaltige Strategien zu designen und umzusetzen.

Die Impact Economy braucht u. a. folgende Übergänge:
• Vom Shareholder Value zum Stakeholder Value,
• von zerstörerischen Marken zu Transforming Brands,
• vom Massenkonsum zu neuem Wachstum,
• vom Raubbau an der Natur zum regenerativen Kreislauf,
• von Gewinnmaximierung zu Purpose,
• vom Zwang wirtschaftlicher Ergebnisse zu gesellschaftlicher
Verantwortung,
• von negativen Finanzhebeln zur positiven Lenkungswirkung
der Finanzmärkte.
Übergänge auf eine neue Ebene sind kein Selbstzweck. So werden einige Unternehmen mit eher leichten Adaptionen auskommen: Sie sind schon lange resilient und adaptiv, nachhaltig «tief aus dem Herzen» und werden auch unter veränderten Umweltbedingungen blühen und gedeihen. Einige davon sind echte Kopföffner, es sind Vor-Macher die zeigen, wie Wirtschaften unter neuen Bedingungen funktionieren kann. Viele andere Unternehmen werden in diesem Jahrzehnt ihre Wertschöpfungsketten auf radikale Weise umbauen und umstellen müssen – oder sie werden vom Markt verschwinden. Das ist an sich nichts Neues, das Spiel nennt sich Wirtschaft. Allerdings sind die Regeln nun andere als in den vergangenen 50 Jahren während der Blütezeiten des fossilen Kapitalismus.

Für die Weltmärkte der Zukunft

Klima-, Umwelt-, und Artenschutz sind Weltmärkte der Zukunft. Es ist Zeit, dass sich Unternehmen, Organisationen und Verbände auf die Chancen konzentrieren, die in den kommenden Jahrzehnten des Klimaschutzes liegen. Die Märkte der Zukunft sind klimaneutral. In der Wirtschaft sehen wir, dass Unternehmen aus unterschiedlichem Antrieb nachhaltige Strategien entwickeln.
Im Äußeren Antrieb
• Die Regulatorik fordert es, z. B. die Finanzmärkte, EU-Taxonomie, CO2 Preis, CSR(D) Reporting und Offenlegungsverordnung, Lieferkettengesetz, ESG u. w. Eine Nichterfüllung zieht massive Schäden und Haftungsrisiken mit sich.
• Die Konsumenten ändern ihr Kauf- und Nutzungsverhalten z. B. bei Lebensmitteln, Verpackungen, Reisen, Mobilität, Wohnen und grundsätzlich im Vertrauen gegenüber Marken, die die Umwelt schonen und derer die sie zerstören.
Im Inneren Antrieb
• Aus der intrinsischen Motivation, dass Wirtschaften nicht gegen die Regeln und auf Kosten der Natur und planetaren Grenzen passieren darf. Das Bewusstsein intrinsisch motivierter Führungskräfte, Vorstände und Geschäftsführer ist höher als bei denjenigen, die meist verspätet auf äußere Antriebe reagieren, statt sie proaktiv zu gestalten.

Die Entwicklung einer wirkungsvollen Strategie ist immer die Verbindung des Äußeren und des Inneren Antriebs. Um nachhaltige Transformation umzusetzen, brauchen Unternehmen ein neues Strategie-Design. Beim Impact Business Design geht es einerseits um die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie – keiner Nachhaltigkeitsstrategie – und andererseits um die Gestaltung der Transitionen. Der Schlüssel ist der systemische Ansatz und die Vernetzung des Unternehmens in seine Umwelt mit dessen Auswirkungen. Um ein bestehendes Unternehmen, Geschäftsmodelle oder Produkt nachhaltig zu entwickeln, ist die Impact Business Map eine wirkungsvolle systemische Methode, die wir am Zukunftsinstitut entwickelt haben und die ich nun für die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Unternehmenstrategien einsetze.

 

Neues Wachstum – nachhaltige Strategien

Die Impact Business Map (Abbildung 2) ist ein Leitfaden für Unternehmen in ihrer Strategieentwicklung. Die Methode führt Unternehmen Schritt für Schritt durch den Prozess.
Impact Pioniere denken in Kontexten des Wandels und integrieren sich in die Welt – und umgekehrt. Daraus speisen sie ihre Kraft – ihren Antrieb – den stärksten Hebel den ein Unternehmen nutzen kann.

Die Wirkung des Antriebhebels

Der Äußere Antrieb umfasst die Veränderungsbewegungen – die Trends und Megatrends aber auch Risiken und Regulatorik. So zeigt der weitreichende Wandel der Trends für Unternehmen neue Grenzen auf – und aktualisiert die Potenzialbewertung. Solange zum Beispiel der Megatrend Neo-Ökologie am Anfang steht, werden Unternehmen der Circular Economy oder der Post Carbon Socitey noch eher kleine Nischenanbieter bleiben. Beschleunigt sich der Megatrend, so wird dieser zum Mega-Antrieb für Unternehmen. Im Weiteren folgt daraus die Fokussierung auf kurz- und mittelfristige Umfeld-Einflüsse: Neben den technologischen und digitalen Einflussfaktoren werden rechtliche, soziale und ökologische Elemente die Geschäftsmodelle der Zukunft bestimmen. Den Kern eines jeden Impact-Unternehmens bildet im Inneren Antrieb der Corporate Purpose also der Unternehmenszweck. Hier geht es nicht um plumpes Purpose-Marketing, sondern um das wirkliche «Wofür»: Wofür wird das Unternehmen benötigt? Nur durch diese Zweckbestimmung kann das Geschäftsmodell eine klare Demarkation vornehmen und zu seiner Identität finden. Sprich: Das Unternehmen kann eindeutig eine Grenze zwischen dem Innenraum und dem Außenraum (Unternehmensumfeld) vornehmen. So entstehen klare Konturen und Rahmenbedingungen. Das enkelfähige Anliegen des Unternehmens wird eindeutig.
Pioniere der nächsten Unternehmensgeneration denken ihr Geschäft immer vom Potenzial nachhaltiger Lösungen, und zwar in drei Dimensionen.

Die Wirkung des Potenzialhebels

Es gibt drei Potenzialhebel nachhaltiger Geschäftsmodelle: Markt, Kunden und Konsumenten, Partner- und Organisationspotenziale. Bei allen dreien ist ein Human-Experience Design handlungsleitend. Dies bedeutet, dass das Potenzial vom Menschen gedacht wird. Dabei hilft z. B. der Lebensstile-Ansatz des Zukunftsinstituts, weil diese die Sicht auf Kund*innen, Partner und Mitarbeiter*innen verändern. Sie beinhalten neben demografischen Merkmalen die Individualität der Lebenssituationen (Bedürfnisse und Motivationen) und bieten so einen Fixstern zur Orientierung. Impact Pioniere denken immer vom Menschen her – und zwar selbstverständlich. Kunden werden in ihren menschlichen Bedürfnissen erkannt und wahrgenommen. Partner werden nicht über Unternehmen definiert – sondern über die Menschen, mit denen man zu tun hat. Und die eigene Organisation wird nicht als Maschine mit Ressourcen bewertet, sondern als soziales System, welches durch die Menschen besteht und seinem inneren Antrieb folgt.

«Partner werden nicht über Unternehmen definiert.»

Zunächst gilt es also, im Potenzialhebel bei den Kundenpotenzialen die Bedürfnisse und Probleme der Menschen zu identifizieren. Hierbei stehen die Menschen im Vordergrund, die im Antriebshebel eine hohe Wirksamkeit aufweisen. Auf Basis der identifizierten Kundinnen können nun die Partnerpotenziale und Organisationspotenziale abgeleitet werden. Bei den Partnern stehen die vorhandenen und benötigten Netzwerke im Vordergrund der Betrachtung, welche ein funktionsfähiges Ökosystem bilden können. Innerhalb der Organisation sind insbesondere Ressourcen, Skills und Haltungen einzuschätzen, um ein erfolgreiches Impact-Geschäftsmodell aufzubauen. Auf Basis dieser lässt sich wiederum das notwendige Organisationsdesign feststellen – nach dem Motto: Form follows Humans. Im dritten Schritt kümmern sich Impact Pioniere um das Angebot und Wertversprechen. Hier folgen sie dem Prinzip des Werthebels.

Die Wirkung des Werthebels

Der Werthebel kommt im Wertangebot zur Geltung. Fokus des Angebots sind die drei Dimensionen Produkt, Dienstleistung und Information. Durch diese Kombination werden Kunden*innen zunehmend an das Unternehmen gebunden, und eine langfristige Beziehung kann entstehen. Das Wertangebot bildet die Basis der Einnahmen und des Profits. Das gesamte Angebot bezieht sich auf die zuvor im Antriebshebel und Potenzialhebel erkannten und definierten Grundlagen: Was treibt uns an? Was bewegt die Welt? Für wen und mit wem können wir unseren Antrieb realisieren? Und erst dann: Welches Wertangebot ergibt sich daraus? Zuletzt gilt es, mit der Wertbotschaft Wirkung und somit Resonanz in den Kommunikations-Kanälen zu schaffen. Auch hier ist ein Fokus auf Basis der Bedürfnisse-Typologie empfehlenswert, um die Kernaussagen der Angebote passend zu den Ansprüchen ihrer Zielgruppen zu kommunizieren. Die Antworten auf den Potenzialraum ergeben die Logik der Kanäle und nicht umgekehrt.

Nachhaltige Zukunft: Systemische Würze statt vorschnelle Antworten
Die Wirtschaft und Teile der Gesellschaft der letzten Jahrzehnte haben den Bezug zur Welt über weite Strecken ignoriert und sabotiert. Unsere Wirtschaft braucht einen Neustart. Sie braucht Unternehmer*innen, die neu denken, neue Modelle und Werkzeuge einsetzen und nachhaltige Zukunft als Möglichkeitsraum sehen. Die in diesem Artikel beschriebenen Denkansätze und die Kurzvorstellung der Impact Business Map sollen Ihnen dabei helfen.
Hinter der Impact Business Map liegen tiefgründige systemische Fragestellungen. Strategien entwickelt man nicht in einigen Workshops. Schon gar nicht, wenn Sie sich und Ihr Unternehmen in eine nächste Bewusstseinsstufe bringen wollen. Dieser Prozess braucht eine neue Expertise, denn so hat es schon Albert Einstein formuliert: «Sie können ein Problem nicht mit derselben Denkweise lösen, wie es entstanden ist.»
Um die Prinzipien des Impact Business Design zu aktivieren, braucht es einen fundierten Blick auf die aufgeworfenen Fragen. Pioniere haben dieses Fundament oft im Blut. Sie sind angetrieben von ihrer Idee, die Welt zu verändern. Impact Pioniere leben nach dem Kalkül der Wirksamkeit durch eine Vision: Wer keine Vision hat, sollte zum Arzt gehen, so das Motto. Doch nicht alle Organisationen können durch eine intrinsische Visionskraft bewegt werden. Oft gilt es, diese erst freizuschaufeln und neue Strategien im Sinne der nächsten Generation zu entwickeln.
In anderen Worten: Klassische Planung und reines Wachstumsversprechen reichen nicht, um nachhaltige Strategien für die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen zu erzeugen. Es bedarf der Fähigkeit der klugen Vernetzung von Gedanken, Beobachtungen und Erfahrungen, um nachhaltige Strategien zu designen. Werden Sie selbst zum Impact Designer. Starten Sie jetzt.

Stephan Grabmeier
Zukunfts-Designer u. a. am Zukunftsinstitut, Experte für nachhaltige Business Transformation, enkelfähiges Wirtschaften und New Work


Nordstern ökologischer Wandel

Die Debatte darüber, ob Klimawandel existiert, ist abgeschlossen. Nun geht es darum, bei Staat und Wirtschaft Einigkeit über die notwendige Tiefe der damit verbundenen ökologischen Transformation herzustellen. Wo wir hier derzeit in Deutschland und Europa stehen und welche Anstrengungen aller es weiterhin bedarf, erläutert Prof. Dirk Messner, Präsident des Bundesumweltamts. Eins ist dabei schon jetzt klar: Die für eine lebenswerte Welt notwendige Veränderungsarbeit können wir nur gemeinsam leisten.

ZOE: Corona hat uns umwelttechnisch eine «Verschnaufpause» beschert, spätestens seit der sukzessiven Öffnung geht es wirtschaftlich wieder aufwärts und damit auch mit den Emissionen. Was haben wir aus Corona für nachhaltiges Wirtschaften gelernt?

Messner: Nach den Lockdowns während der Pandemie gingen die Emissionen in Deutschland, Europa und weltweit wieder nach oben. Wir haben noch sehr viel zu tun. Dennoch: im Vergleich zur Finanzkrise in 2008/09, hat sich einiges fundamental verändert. Während in ihrem Nachgang vor allem Wachstum, Wachstum, Wachstum propagiert und Klima- und Nachhaltigkeitsfragen ausgeblendet wurden, führen wir in Deutschland und auch Europa im Kontext der Pandemie nun eine ganz andere wirtschaftspolitische Debatte.

ZOE: Woran erkennen Sie das?

Messner: Wir haben am Umweltbundesamt 2020 über 120 Reports aus vielen Ländern ausgewertet, die sich damit beschäftigten, wie Unterstützungsprogramme aussehen sollten, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Das interessante Ergebnis: nahezu alle setzen auf Klimaschutzinvestitionen, grüne Infrastrukturen, Umbau zu Nachhaltigkeit. Green Recovery, also die Frage wie wir soziale, wirtschaftliche und ökologische Folgen der Corona-Krise adressieren, wurde zum neuen Mainstream. Grünes Wachstum kann einen nachhaltigen, widerstandsfähigen und klimaneutralen Wandel ermöglichen – und stellt langfristig den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen sicher. Der European Green Deal steht für diese Neuorientierung. Hierüber besteht auf europäischer Ebene, aber auch global Einigkeit, was sich in Glasgow gezeigt hat. Man kann sagen, dass Klimaneutralität das neue Leitbild für eine weltwirtschaftliche Debatte ist. Nun geht es darum, dass Investitionen sich daran grundlegend ausrichten, das muss in den 2020er Jahren passieren. Derzeit kann man noch nicht von einer weltweiten ökologischen Transformation sprechen. Mit den tiefgreifenden, systemischen Veränderungen, die nötig sind, um wirklich Klimaneutralität zu erreichen, fangen wir gerade erst an.

ZOE: Unternehmen übernehmen ökologische Aspekte mittlerweile immer stärker in ihre Zielbilder und Strategien. Wie ernst ist es ihnen mit der Umsetzung?

Messner: Auch hier hat sich in der letzten Dekade viel getan. Nachhaltigkeit und damit verbundener ökologischer Wandel sind der neue Nordstern, an dem sich viele Unternehmen nicht nur orientieren, sondern diesem bereits folgen. Das ist auch bei den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden angekommen. Die BDI-Studie «Klimapfade 2.0» aus dem letzten Jahr zeigt anschaulich, wie man in Deutschland Klimaneutralität erreichen kann und konkrete Szenarien, Pfade und Ziele formuliert. Wir streiten uns also nicht mehr über das «Ob», sondern sind uns einig hinsichtlich der notwendigen Tiefe der Veränderung, die wir nur gemeinsam erreichen können. Das zeigt sich auch bei der Stiftung KlimaWirtschaft: Sie produziert und kanalisiert ein großes Interesse einer steigenden Anzahl an Unternehmen, die wirtschaftliche Wertschöpfung und Nachhaltigkeit ganzheitlich verstehen und umsetzen wollen. Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell und Klimaneutralität zu einem internationalen und exportfähigen Markenzeichen des Wirtschaftsstandorts Deutschland bzw. Europa zu machen.

«Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell zu machen.»

ZOE: Wenn Unternehmen all das leisten können, wozu braucht es dann überhaupt noch den Staat?

Messner: Den Staat braucht es für die Rahmenbedingungen, damit unternehmerisches Handeln durch Nachhaltigkeit möglich wird. So hat die Bundesregierung 2021 einen CO2-Preis für Wärme und Verkehr eingeführt. Über diesen nationalen Emissionshandel erhält der Ausstoß von Treibhausgasen beim Heizen und Autofahren einen Preis. Investitionen in den Klimaschutz werden forciert. Die Bundesregierung reinvestiert die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in Klimaschutzmaßnahmen oder entlastet die Bürgerinnen und Bürger. Ergänzt wird der CO2-Preis durch klimaorientierte Sektorpolitik: Aufbau von Ladeinfrastruktur im Verkehr, Standards für klimaneutrales Bauen, Regeln für klimaschonende Landwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist die Kreislaufwirtschaft, also Produktion und Verbrauch, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Diese muss mit der gleichen Wucht vorangetrieben werden wie Klimaneutralität. Da brauchen wir Anreize: technische Standards, um Zirkularität zu vereinfachen, Bepreisung von Ressourcenverbräuchen oder Forschung, um Innovationen zu stärken. In der zirkulären Wirtschaft ist noch sehr viel zu tun. Zudem bedarf es Schutzzonen für Biodiversität, damit die Ökosysteme als «Netzwerke des Lebens» stabilisiert und Kipp-Punkte im Erdsystem vermieden werden. Und nicht zu vergessen: All das Neue muss sozial ausgewogen eingeführt werden, sonst erzeugt man Widerstand. Dabei ist die Rolle des Staates essenziell. Um schnell klimaneutral zu werden und die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung und der EU zu erreichen, haben wir leider nur wenig Raum für Selektivität. Fast alles was möglich ist, muss gemacht werden. Und dabei darf der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht auf der Strecke bleiben.

ZOE: Deshalb schauen auch zivilgesellschaftliche Organisationen genau hin…

Messner: Ja, sie halten den Druck aufrecht oder wie es unsere ehemalige Kanzlerin Angela Merkel einforderte: «Fallen Sie uns weiter penetrant auf die Nerven, damit die Politik sich bewegt». NGO, Bürgerräte und auch die Wissenschaft spielen neben Staat und Unternehmen eine zentrale Rolle und das ist gut so. Dabei sollten wir uns nichts vormachen, denn in vielen Ländern gibt es auch zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen, autoritäre Muster und Nationalismus predigen, Wissenschaft angreifen. Ich denke, zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ziel der Klimaneutralität nur im globalen Verbund erreicht werden kann, bei dem Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und übrigens auch multilaterale Organisationen enger zusammenwirken müssen als bisher.

«Es gibt zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen.»

ZOE: Wie kann dieses interorganisationale Zusammenspiel aussehen, wo doch die Zielsetzungen unterschiedlicher nicht sein könnte?

Messner: Es kommt jetzt darauf an, dass der Staat klare Rahmenbedingungen schafft, die es Unternehmen und Organisationen erleichtern, den nächsten Schritt zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wertschöpfung zu gehen. Wie wir aus der Organisationstheorie wissen, sind Organisationen nicht nur «Anpassungsmaschinen». Der Druck zu nachhaltigem Wirtschaften kommt auch von innen, in vielen Organisationen arbeiten immer mehr Menschen, die es für unumgänglich halten, Nachhaltigkeit als oberstes Leitprinzip zu verfolgen.

ZOE: Sie sprechen neue Generationen an, die ganz anders auf Arbeit und ihr Arbeitsumfeld schauen?

Messner: Ja, der Generationenwechsel in Organisationen ist ein zentraler Hebel für die notwendige Dynamik. Während ältere Generationen nicht selten Schwierigkeiten haben, sich eine grüne Produktion vorzustellen und Pfadabhängigkeiten im Denken und Handeln wirksam bleiben, ist das für junge und noch folgende Arbeitnehmergenerationen mehr oder weniger gesetzt. Umbrüche wie ein ökologischer Wandel werden nicht nur akzeptiert, sondern bewusst eingefordert.

ZOE: Sie sprachen von einer Transformation durch Reduktion. Wie verhält sich eine unternehmerische Profitorientierung mit reduzierten Wachstumserwartungen?

Messner: Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedmann sprach davon, dass die einzige Verantwortung von Unternehmen darin besteht, Profit zu machen. Das greift offensichtlich zu kurz. Unternehmen übernehmen heute Verantwortung, die weit über Profit hinausgeht. Sie umfasst Aspekte des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders ebenso wie Umwelt oder Moral und Ethik. Das Wohl von Menschen und Umwelt sollte dabei Ziel des Wirtschaftens sein. Hier reden wir nicht von blumigen Botschaften in Jahresberichten, sondern gänzlich neuen Geschäftsmodellen. Um global wirkliche Transformationswirkungen spüren zu können, müssen wir über die Unternehmens- und Landesgrenzen hinausschauen – die nachhaltige Ausrichtung globaler Wertschöpfungsketten wird immer wichtiger. Erst wenn wir global vernetzt handeln, was Unternehmen und Staaten umfasst, werden wir den Ansprüchen einer auch in Zukunft lebenswerten Welt gerecht.

ZOE: Was genau heißt das für die Ausrichtung von Organisationen?

Messner: Im Kern geht es um die Entwicklung neuer, ambitionierter Geschäftsmodelle, die neben ökonomischen auch normative Handlungsprämissen beinhalten, die auf Klimaschutz einzahlen. Wir müssen anerkennen, dass wir für Erdsystemstabilität verantwortlich sind. Hierfür empfehle ich die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Sie fassen regelmäßig den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über die Beeinflussung des Erdsystems durch die Menschheit und daraus entstehender Auswirkungen zusammen. Wir Menschen sind der größte Einflussfaktor auf das Klima und verantwortlich für die Klimakrise. Wenn wir dieses Wissen mit globalem Handeln verbinden, landet man bei globaler Gerechtigkeit.
Schon heute lösen die Folgen der Klimakrise massive Ungleichgewichte in der Welt aus, die wir uns bewusst machen müssen. Nicht zuletzt sollte eine intergenerationale Perspektive Teil unseres Handelns und der Debatten in Organisationen sein. Wir handeln im Interesse einer Zukunft, die wir vermutlich nicht mehr selbst erleben werden, aber dennoch für sie verantwortlich sind. Wenn man diese  Handlungsprämissen als Grundlage nimmt, entsteht ein normativer Führungs- und Gestaltungsanspruch für organisationale Wertschöpfung.

ZOE: Was kann die Umsetzung fördern?

Messner: Immanuel Kant spricht so trefflich von den «Bedingungen der Möglichkeit». Diese haben wir in den letzten 20 Jahren geschaffen. Wir sind aber zu langsam. Auch Zielbilder haben wir, wie die Sustainable Development Goals, den European Green Deal oder das Klimaschutzgesetz. Damit diese umgesetzt werden, benötigen wir institutionelle Rahmenbedingungen. Diese müssen so aufgesetzt sein, dass Unternehmen oder Bürgerinnen und Bürger ihr Handeln danach ausrichten. Sie schaffen also einen neuen Kontext, der Transformation ermöglicht. Die Menschen fordern diesen schon heute ein, das zeigt u. a. unsere Umweltbewusstseinsstudie. Es ist also keine Frage des Wollens, sondern eher des Könnens.

ZOE: Wie müssen wir einen Wandel gestalten, der Wege in eine grüne Zukunft aufzeigt?

Messner: Für mich geht es hier um fünf Dinge, um die Motivation von Menschen für den Wandel zur Nachhaltigkeit zu stärken: (1) Das Problem und die damit verbundene Dringlichkeit und Notwendigkeit muss klar und verständlich sein. (2) Gleichzeitig müssen wir Lösungen anbieten, die umsetzbar und leistbar sind. Hier haben wir enorme technologische, aber auch regulatorische Fortschritte gemacht. (3) Es müssen Zugänge und Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die jeder und jede von uns nachvollziehen kann. Aktive  Beteiligungsmöglichkeiten unterstützen den Wandel. Hier spielt Kommunikation eine wichtige Rolle, aber letztendlich müssen Menschen erleben, dass sie Treiber und Treiberinnen des Wandels und nicht Getriebene sind. Das mag für Menschen, die sich täglich beruflich mit Veränderung beschäftigen nicht bahnbrechend sein, trotzdem stehen wir in einigen dieser Themen noch am Anfang. (4) Bei alledem muss es fair und gerecht zugehen. (5) Wir müssen Klima- und Ökosystemschutz verbinden mit Entwürfen attraktiver Zukünfte. Das motiviert Menschen mitzumachen. Viel zu oft schauen wir auf vermeintliche Zumutungen des Klimaschutzes, auf das, was dieser uns abverlangen könnte. Das halte ich für irreführend. Klimaschutz ist Risikovorsorge und kann mit mehr Lebensqualität verbunden werden.

ZOE: Derzeit herrscht Krieg in Europa, was Vieles grundlegend auf den Kopf stellt. Was bedeutet das für die Klimapolitik?

Messner: Die Entwicklungen in Osteuropa bereiten mir wie sicher vielen anderen Menschen große Sorgen. Daneben treibt mich um, dass wir für einen globalen Klimawandel eine globale Kooperationsarchitektur benötigen, die derzeit eher wankt und taumelt, denn vorangeht. Bei der Resolution im UN-Sicherheitsrat im Februar 2022 gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine haben sich gut 30 Länder enthalten. Darunter wichtige aufstrebenden Staaten, wie China und Indien, aber auch eine signifikante Zahl afrikanischer Länder, die wir für die Bekämpfung des Klimawandels dringend brauchen. Ich interpretiere das als Signal, dass man dem Westen nicht mehr so folgt, wie wir uns das eventuell wünschen. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, warum es in Teilen der Welt eine gehörige Skepsis gegenüber dem Westen gibt: der Irak-Krieg, Abu Graib, die ungleiche Verteilung der Impfstoffe während der Pandemie; die Liste an Vorbehalten ist lang. Damit sich die Aggression Russlands nicht in eine umfassende Weltordnungskrise übersetzt und dabei auch die Klimaverhandlungen erschüttert, müssen wir in unsere internationalen Netzwerke investieren. Wir sollten den Konflikt um die Ukraine nicht als «Russland gegen der Westen» framen: hier geht es um universelle Grundprinzipien der globalen Ordnung. Es sind fundamentale Fragen, die der Krieg aufwirft.

ZOE: Wie verändert sich dadurch die klimapolitische Diskussion in Deutschland?

Messner: Hierzulande beobachte ich nicht, dass unsere gesetzten Ziele für Klimaschutz in Frage gestellt würden. Stattdessen scheint die Entwicklung der vergangenen Monate den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu beschleunigen. Zugleich muss man nüchtern feststellen, dass der Krieg die Aufmerksamkeitsökonomie verändert: wir müssen hart daran arbeiten, die Klima- und Nachhaltigkeitsthemen auf der Agenda zu halten. Zudem können öffentliche Investitionen nicht beliebig ausgebaut werden, so dass es kein Selbstläufer ist, die notwendigen
Ressourcen in die Klimaneutralität zu lenken. Die Ziele der Klimaneutralität zu erreichen und weltweit die Leitplanke von 1,5 – 2°C nicht zu reißen, wird im Kontext der schwierigen internationalen Lage eine Herkulesaufgabe. Aber: manchmal lassen sich gerade in Krisenzeiten kühne Vorhaben leichter durchsetzen als in «Normalzeiten».

 

Prof. Dr. Dirk Messner
Präsident des Umweltbundesamtes

 

Literatur:

BDI-Studie «Klimapfade 2.0 – Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft» (2021).
European Green Deal.
Fünfter Sachstandsbericht des IPCC.
Klimavertrag der Bundesregierung.
Stiftung KlimaWirtschaft.
Ziele für nachhaltige Entwicklung.


Die Berge wegdenken

Warum Macht im Wandel oft ausgeblendet wird

Strebt man Veränderungen in einer Organisation an, ist es ratsam, Machtfragen mitzudenken. Darüber hat ZOE-Redakteur Heiko Roehl mit Fritz B. Simon gesprochen. Ein Gespräch über Macht, Hierarchie und neue Frisuren.

ZOE: Herr Simon, was muss man über Macht wissen, wenn man Veränderungsprojekte betreut?

Simon: Was mir generell auffällt, ist, dass die bestehenden Machtverhältnisse in Veränderungsprozessen oft von Kunden wie Beratenden nicht mitkalkuliert werden. Oft herrscht bei den Beteiligten die Auffassung, mit genügend wohlmeinenden Leuten könne man jede Organisation verändern – auch gegen den Willen derer, die über die formale Macht verfügen. Das halte ich für einen Denkfehler. Hierarchie in einer Organisation ist ja nichts generell Böses, sondern etwas hoch Funktionelles. Deswegen kann man sie nicht einfach abschaffen, sondern muss sie mitdenken, wenn man Veränderungen in einer Organisation anstrebt. Man muss strategisch planen, wie sich die entsprechenden Strukturen nutzen lassen. Und dazu gibt es spezifische Ansatzpunkte. Wenn man die bestehenden hierarchischen Strukturen nicht als Ausgangspunkt wählt, begibt man sich gewissermaßen auf eine Wanderung ins Gebirge und denkt sich die Berge weg.

ZOE: Warum neigen Menschen dazu, das Thema Macht auszublenden? Wir sehen das bei der Pandemie im Moment ja auch ziemlich deutlich.

Simon: Ich glaube, es gibt zwei Tendenzen, die auch in der Pandemie beobachtbar sind. Die eine besteht in dem Irrglauben, den schon Margaret Thatcher vertrat, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen. Soziale Systeme sind in diesem Denkmodell nur lose aus Individuen zusammengesetzte Gruppen, und wenn die Individuen motiviert oder von etwas überzeugt werden, kann man soziale Verhältnisse verändern. Wie falsch diese Auffassung ist, kann man an der Corona-Impfkampagne sehen. Wenn zwanzig Prozent der Bundesbevölkerung sich nicht impfen lassen, ist die Pandemie offenbar nicht zu stoppen. Überzeugte Impfgegner wird man auch durch noch so bemühte Motivationsversuche nicht zum Impfen bringen. Sie folgen ihrer individuellen Rationalität. Anders dürfte das Ergebnis sein, wenn man die sozialen Spielregeln verändert und, beispielsweise, eine Impfpflicht einführt; das heißt, den Fokus der Aufmerksamkeit auf eine andere Systemrationalität lenkt. Der Einzelne muss sich nicht mehr für eine Impfung entscheiden oder dazu motiviert werden, sondern er muss sich nun gegen sie entscheiden und die sozialen Konsequenzen tragen. Was für soziale Systeme rational ist, ist oft etwas Anderes als es für Individuen ist. Die Frage ist immer: Welches System will man verändern? Die Rationalität sozialer Systeme resultiert nicht aus der Addition der Rationalität von Individuen. Darin liegt, glaube ich, der konzeptuelle Irrtum.
Der zweite Aspekt ist meines Erachtens, dass es seit den 1968ern Jahren und Bewegungen starke antihierarchische Affekte bei den meisten Leuten gibt. Ich bin ja alter 68er und habe die damaligen Umwälzungen miterlebt und -gemacht. Der erste Bereich, in dem ich Organisation als Mitarbeiter kennen gelernt habe, war eine große psychiatrische Anstalt. Sie war so etwas wie ein Naturpark für Organisationsformen. Da gab es tradierte hierarchische Systeme, z. B. Stationen, deren Stationspfleger schon in dritter Generation diese Rolle innehatte. Die Häuser, in denen sie wohnten, hießen bezeichnenderweise «Wärterhäuser». Sie hatten Rolle und Wohnung von ihren Vätern übernommen, und die hatten sie von ihren Vätern übernommen. Das waren Feudalsysteme, in denen die Patienten oder Patientinnen sich ihre Zigaretten verdienen konnten, indem sie die Autos der Pfleger wuschen. Auf der anderen Seite gab es basisdemokratische Abteilungen, sogenannte «Therapeutische Gemeinschaften» – ich war als Arzt für so eine verantwortlich –, in denen die Patienten kollektiv Entscheidungen treffen sollten. Heute würde man dies unter dem Namen Agilität verkaufen. All das war für mich ein wunderbares und gruseliges Erfahrungs- und Übungsfeld. Leute, die etwas verändern wollen, sehen hierarchische Strukturen in der Regel als ein Problem. Oft zu Recht, weil Hierarchen häufig schwachsinnige Entscheidungen treffen und überhaupt nicht wissen, wovon sie reden. Denn sie verfügen oft gar nicht über das notwendige, kleinteilige operative Wissen. Aber die Alles-oder-Nichts-Alternative: Entweder basisdemokratisch oder autoritär-tyrannisch, die wird weder der täglichen Praxis in den Organisationen gerecht, noch sind daraus wirklich sinnvolle Veränderungsmodelle abzuleiten.

«Hierarchie in einer Organisation ist etwas hoch Funktionelles.»

ZOE: All diese Ansätze, Agilität, Basisdemokratie, die ganzen großen Revolutionen, haben die etwas daran geändert, wie Macht in Organisationen funktioniert? Oder ist es nicht so, dass das eine Vorderbühnenfassade ist, hinter der alles eigentlich genauso wie immer läuft? Ist es gelungen, Macht in Organisationen wirklich zu demokratisieren?

Simon: Nein. Ich glaube auch nicht, dass es Sinn macht, Macht zu demokratisieren in Organisationen. Natürlich kann und sollte man sie als Rolleninhaber höchst unterschiedlich nutzen. Und ich glaube, dass sich das Selbstverständnis von Führungskräften in den letzten 50 Jahren radikal verändert hat. Heute spielen da auch systemtheoretische Führungskonzepte eine wichtige Rolle. Die eigentliche Frage ist meines Erachtens ja nicht, ob es Hierarchien geben sollte, sondern: Was ist eigentlich die Funktion von Hierarchie bzw. von formaler Macht? Wenn ich einen Arbeitsvertrag in einer Organisation unterschreibe, heißt das, dass ich bestimmte Spielregeln akzeptiere. Systemtheoretisch gesehen bin ich als Individuum ein autonomes und durch meine eigenen psychischen Strukturen gesteuertes Wesen. Ich kann im Prinzip immer machen, was ich will. Ich nutze diesen Freiraum aber als Mitarbeiter einer Organisation nicht aus. Ich könnte zur Arbeit gehen, mich nackt ausziehen und auf dem Schreibtisch tanzen. Doch da ich meinen Job behalten will, tue ich das schlauerweise nicht. Es gibt jede Menge Spielregeln, die für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als Prämissen ihrer – immer noch – autonomen Entscheidungen fungieren. Eine davon lautet, dass sie den Bereich, in dem sie autonom entscheiden dürfen, als begrenzt akzeptieren müssen. Das heißt, es wird erwartet, sich in bestimmte Strukturen einzuordnen. Es gibt Kommunikationswege, die eingehalten werden müssen, d. h man muss jemandem «berichten» und er oder sie hat «das Sagen», um es ganz platt auszudrücken. Das heißt, man muss Entscheidungen anderer Leute als Grundlage seiner eigenen Entscheidung akzeptieren.
Die Funktion von Hierarchie besteht darin, eine riesige Zahl autonomer Akteure und Akteurinnen – bei Großkonzernen geht das in die Hunderttausende – die ja eigentlich alle nackt auf dem Tisch tanzen könnten, dazu zu bringen, sich in bestimmte Prozesse einzufügen und zu kooperieren. Solche Strukturen werden durch Erwartungs-Erwartungen hergestellt und aufrechterhalten. Ihr Zweck ist, dass jede und jeder autonom so entscheidet, dass im Idealfall eine kollektive Leistung erbracht wird. Kurz gesagt: Die Funktion von Hierarchie besteht in der Koordination von Aktionen und Akteuren. Hierarchen müssen gar nicht entscheiden, aber sie müssen dafür sorgen, dass die Aktionen vieler autonomer Leute nach bestimmten vorgegeben Spielregeln koordiniert werden bzw. sich – selbstorganisiert – koordinieren. Ohne Hierarchie ist dies extrem unwahrscheinlich. Und deshalb funktioniert Organisation auf Dauer nicht ohne Hierarchien irgendwelcher Art (mit Betonung auf «irgendwelcher Art», d. h. es muss keine Hierarchen geben, denn auch ein akzeptiertes Verfahren zur Entscheidungsfindung kann die hierarchische Funktion übernehmen).

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Fritz B. Simon – Biografie

Studium der Medizin und Soziologie. Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut. Gründungsprofessor (Lehrstuhl für Führung und Organisation) des  Instituts für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer-Verlags, Heidelberg, und des Organisationsberatungsunternehmens Simon, Weber & Friends GmbH. Jetziger Arbeitsschwerpunkt: Organisationsforschung und -beratung. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind.

 

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ZOE: Gibt es nicht ein gewisses Autonomieversprechen in Familie, Gesellschaft und Organisation, besonders an die jüngeren Generationen: Gestalte dein Leben und Arbeiten frei, lebe deinen Traum? Was bedeutet das für Macht in Organisationen?

Simon: Es führt dazu, dass es erheblich schwieriger ist, einen interpersonellen Konsens über das herbeizuführen, was die Organisation als handelnde Einheit tun soll. Üblicherweise heißt das erst einmal nur: Man braucht einen höheren Kommunikationsaufwand. Aber es heißt auch, dass man womöglich Entscheidungen, wenn sie für das soziale System im Sinne der Systemrationalität notwendig sind oder auch der Zeitaufwand für die kommunikative Entscheidungsfindung zu groß ist, auch ohne Konsens durchsetzen kann. Die Autonomie des/der Einzelnen endet ja immer dort, wo die Rechte anderer durch seine oder ihre Rechte beeinträchtigt sind. Die Impfpflicht betrifft zwar keine Organisation und ist deshalb nicht wirklich ein gutes Beispiel, aber da sie aktuell so leidenschaftlich diskutiert wird, nehmen wir sie als exemplarisch für dieses allgegenwärtige Dilemma. Der Staat wird vielleicht nicht um sie herumkommen, genauso, wie er eine Gurtpflicht beim Autofahren eingeführt hat, um die Zahl der Verkehrstoten zu reduzieren. Dafür gibt es staatliche Macht. Sie verfügt über Durchsetzungsmöglichkeiten. Das heißt in der Konsequenz nicht, dass jemand zwangsweise geimpft würde, aber jeder Einzelne muss dann eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen: Entweder er oder sie hält sich an die Regeln oder wird bei Zuwiderhandlung belangt. Dadurch ändern sich die individuellen Entscheidungskriterien. Die Freiheit ist dem Einzelnen – zumindest theoretisch – nicht genommen, aber seine Wahlmöglichkeiten sind verändert.

ZOE: Aber heißt das nicht, dass wir auf eine ganze Reihe von Enttäuschungen zusteuern? Auch in den Organisationen? Dem Individuum wird durch die sozialen Medien suggeriert, du darfst hier mitspielen, du bist hier relevant, deine Stimme wird gehört. Jeder darf ein News Feed starten, und 150.000 Menschen folgen.

Simon: Tatsächlich wird dieses Autonomieversprechen ja nicht gehalten. Du darfst lediglich so tun, als ob du wichtig wärst. Selbst wenn dir 150.000 Leute im Netz ihre Likes zukommen lassen, hat das letztlich ja keine Relevanz. Denn andere Leute haben auch 150.000 Follower, und noch andere Leute haben 200.000. Das heißt, in der Menge dieser Äußerungen, die zwar alle irgendwo autonom gepostet wurden, bist du als Einzelner gar nicht viel wichtiger als jemand, der sich früher am Stammtisch auf die Schulter klopfen ließ. Früher hattest du sechs Leute, die dir zugehört haben, und dann Prost gesagt haben, heute sind es eben 150.000, die dir zuprosten. Das hat erst einmal keinerlei Wirkung, sondern ist nur ein Hintergrundrauschen. Es hat allerdings dann eine weitergehende Wirkung, wenn darauf die formalen Amtsträger und Amtsträgerinnen aus der Politik reagieren. Und darin liegt auch das eigentliche Risiko von Telegram und anderen derartigen Plattformen. Das hat man gesehen, als unsere Politiker und Politikerinnen vollkommen ohne Not in Sachen Corona rote Linien verkündet haben. Zu sagen, es wird nie wieder einen Lockdown geben oder es wird keine Impfpflicht geben, ist mehr als fahrlässig. Es ist einfach dumm, sich selbst seine Optionen zu nehmen, nur um irgendwelche potenziellen AfD-Gefolgsleute oder «Querdenker» zu beruhigen. Leider wird so nur der gegenteilige Effekt erzielt. Sie beruhigen sich gar nicht, sondern fühlen sich bestätigt, wenn der Lockdown oder die Impfpflicht schließlich trotz aller Versprechen und Schwüre kommt.

ZOE: …und fühlen sich bestätigt, dass sie es doch mit einem autoritären System zu tun haben, gegen das man rebellieren muss.

Simon: Das Problem ist, dass nicht die Funktion von Autorität gesehen wird, sondern nur einzelne Autoritäten, die teilweise ja auch höchst fragwürdige Figuren sind. Es gibt durchaus machtgeile Leute, die ihre Funktion ausnutzen und irgendwelche narzisstischen Ego-Trips fahren. Insofern ist das Misstrauen ja nicht unberechtigt. Es allerdings auf die Funktion von Hierarchie generell zu übertragen, ist ebenso unsinnig, wie zu sagen: Es gibt Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, deswegen sind wir Müttern gegenüber prinzipiell misstrauisch.

ZOE: Zurück zur Macht in Organisationen. Sie sagen: Wenn wir mit Macht vernünftig umgehen, wenn wir sie einkalkulieren, auch in Interventionen, und wenn Macht gut gelebt wird, dann funktioniert das mit dem Wandel. Warum aber klappt das dann so selten?

Simon: Ich vermute, das ist ein neurotischer Aspekt, den wir womöglich aus der Familie mitbringen oder aus der Schule. Der Großteil der Menschen arbeitet in Organisationen, aber wir lernen nichts über Organisationen. Organisationstheorie ist kein Lehrstoff in der Schule. Also übertragen wir ein Familienoder bestenfalls noch ein Schulmodell auf Organisationen und konzeptualisieren alle organisationalen Beziehungen nach dem Modell von Familienbeziehungen oder Eltern-Lehrer- bzw. Peerbeziehungen. Dann werden also Hierarchen plötzlich in eine väterliche oder mütterliche Rolle gebracht, und sie sehen sich womöglich selber darin. Wahrscheinlich haben Sie ja auch schon tausend Mal in Organisationen gehört: «Wir sind eine große Familie …»

ZOE: Allerdings…

Simon: Das ist vollkommen irreführend. Organisationen und Organisationseinheiten sind keine Familien. Mitarbeitende müssen sich nicht lieben, sie müssen sich nicht einmal gegenseitig mögen (obwohl das natürlich das Arbeiten angenehmer macht). Deswegen sind Hierarchen auch weder strenge Väter noch fürsorgliche Mütter. Nichts dergleichen. Organisationen sind ganz andere Typen sozialer Systeme. In ihnen geht es primär um sachorientierte Kommunikation, um die dauerhafte Lösung sachlicher Aufgaben, z. B. um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Und deswegen ist auch die Rolle des Einzelnen ganz anders als in einer Familie.
Es ist natürlich sehr kränkend zu sehen, dass man in «seiner» Organisation nicht als «ganzer Mensch», sondern nur selektiv in einer bestimmten Funktion gebraucht wird. Jeder möchte gerne als ganzer Mensch gesehen werden. Das übernehmen in unserer Gegenwartsgesellschaft andere soziale Systeme, in denen die Kommunikation personenorientierter ist: Paarbeziehungen, Familien, Freundschaften (womit nicht die bei Facebook gemeint sind). Teams sind deshalb so attraktiv, weil man sich dort gegenseitig wieder «als Mensch» sieht. Was ja für viele Aufgaben wichtig und hilfreich ist, beispielsweise wenn es um Kreativität geht, aber nicht generell.

«Wir konzeptualisieren organisationale Beziehungen nach dem Modell von Familienbeziehungen.»

ZOE: Dass ich in einem Team innerhalb einer Organisation ich selbst ein darf, bleibt eine Illusion, Herr Simon?

Simon: Ein Merkmal von Organisationen ist – und das unterscheidet sie grundlegend von Paarbeziehungen und Familien –, dass jeder im Prinzip in seiner Funktion austauschbar ist und auch austauschbar bleiben muss. Natürlich kann ich einzelne Mitglieder eines Teams austauschen, aber dann wird auch das Team aufgrund der relativ starken Personenorientierung der Kommunikation ein anderes. Insofern ist ein Teammitglied nicht in gleichem Maße austauschbar wie beispielsweise ein Fließbandarbeiter.

ZOE: Schauen wir mal in Richtung Organisationsentwicklung. Was rufen Sie denn aus der Machtperspektive internen Organisationsentwickler*innen zu?

Simon: Seid bescheiden in eurem Ziel. Setzt lieber kleine Meilensteine und lasst euch positiv von einem unerwartet großen Erfolg überraschen. Das dient der Frustrationsprophylaxe. Und vielleicht noch ein weiterer Satz dazu: Seid euch klar darüber, dass ihr gelegentlich Aufträge bekommt, die eigentlich die Aufgabe der Führungskräfte wären – oder an denen Führungskräfte schon gescheitert sind. Diese Aufträge sind meist kaum ausführbar und kaum Selbstwert fördernd.

ZOE: Aber manchmal Karriere fördernd.

Simon: Ja, das kann schon sein.

ZOE: Und was ist für externe Berater*innen der Organisationsentwicklung in Bezug auf die Machtfrage essenziell?

Simon: Schafft euch reiche Eltern an! Nein, im Ernst: Macht euch nicht abhängig von einzelnen Kunden. Es gibt Berater und Beraterinnen, die 80 Prozent ihres Umsatzes in einer einzigen Firma machen. Das ist riskant und existenzgefährdend. Sorgt dafür, dass ihr mindestens zwei (oder mehr) Kunden habt und unabhängig bleibt. Also sorgt für deren Austauschbarkeit. Zweitens, da kommen wir aufs Operative: Es gibt einen Unterschied zwischen Weg- und Zielaufträgen. Meine Theorie dazu kann ich kurz erläutern: Üblicherweise sind unsere Kunden ja professionelle Problemlöser. Dabei kommen sie aber manchmal an einen Punkt, wo sie mit ihrer erprobten Lösungsstrategie scheitern. Was machen sie dann? Meistens: Mehr desselben. Paul Watzlawick und Kollegen haben gut beschrieben, wie der Lösungsversuch das Problem erhält: Durch den Lösungsversuch wird die Situation nicht besser, sondern oft noch schlimmer. Irgendwann kommen diese Problemlöser – Führungskräfte – auf die Idee, sich einen Experten für dieses Problem zu holen. Und dazu suchen sie sich, und das ist die große Falle, einen Profi, der die gleiche Erklärung für das Problem verwendet wie sie selbst. Das heißt, sie suchen sich jemanden, der professionell das macht, womit sie schon gescheitert sind, und dafür bekannt ist. Es ist die Steigerung des Mehr-desselben-Prinzips.
Man kann daher als Berater oder Beraterin, ob extern oder intern, eigentlich davon ausgehen, dass man aus den falschen Gründen engagiert wird. Also muss man aufpassen, dass man nicht in diese Falle tappt, sondern sich eine klare Zieldefinition für eine erfolgreiche Beratung geben lässt. Und dann muss man sich vom Kunden die Erlaubnis geben lassen, einen anderen Weg zum Ziel zu gehen, als er sich dachte. Ganz häufig ist es so, dass man einen Auftrag bekommt, bei dem überhaupt kein Ziel vorgegeben wird, sondern lediglich das Thema. Zum Beispiel «Wir brauchen eine Teamentwicklung». Es wird also ein «Wegauftrag» gegeben und nicht ein «Zielauftrag». Lässt man sich dagegen einen Zielauftrag geben und mit der Freiheit ausstatten, den Weg zum Ziel selbst zu bestimmen, wird der Kunde aller Wahrscheinlichkeit nach am Ende auch zufrieden sein.

ZOE: Ist es nicht viel einfacher, den Standpunkt zu vertreten «wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing»?

Simon: Aber was heißt das denn, wenn alle nach den falschen Noten singen? Wenn ich in den Laden gehe, fragen die mich doch auch «Was hätten Sie denn gerne?». Das Problem vieler Berater ist, dass sie denken, sie müssen hellseherisch herausfinden, was der Kunde eigentlich will oder braucht, ohne dass dieser das selbst formulieren muss. Dann passieren eben solche Sachen, dass jemand in den Laden geht und Kartoffeln haben will, und am Schluss mit einer neuen Frisur rauskommt.

ZOE: Herr Simon, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Literatur

• Simon, F. B. (2021). Einführung in die systemische Organisationstheorie, 8. Aufl., Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2019). Anleitung zum Populismus, oder: Ergreifen Sie die Macht! Carl-Auer.
• Simon, F. B. & Kriz, J.; Ohler M. (Hrsg.) (2019). Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater. Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2018). Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen, Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2012). Einführung in die Theorie des Familienunternehmens, Carl-Auer.


Wir machen jetzt Dailys

Wie Unternehmen agile Methoden konterkarieren

Weil sich die digitale Geschäftswelt immer schneller dreht, bilden sich Teams nur noch, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, und lösen sich dann wieder auf. So zu arbeiten, lässt sich aber nicht einfach verordnen. Neun Irrtümer über agile Methoden – und wie es doch noch klappen kann.

Kaum ein Unternehmen verzichtet heute darauf, agile Methoden auszuprobieren. Ob Vendor Management, regulierte Industrie oder eine Bank, fast überall geht es inzwischen darum, agil zu handeln oder sich agil aufzustellen. Am häufigsten setzen die Teams auf Scrum, danach folgen Kanban, DevOps sowie Lean und Design Thinking. Das zahlt sich aus. Wer sich agil neu erfindet, bekommt meist mehr raus, als er oder sie vorher reingesteckt hat. 89 Prozent der Teams, die agile Methoden nutzen, erzielen Ergebnisse, die den Aufwand rechtfertigen. Sie liefern ihre Projekte schneller ab, machen dabei weniger Fehler und gehen seltener Risiken ein, wie die Hochschule Koblenz in einer Studie mit mehr als 600 Teilnehmenden aus 20 Ländern zeigt (Komus et al., 2020). Trotz dieser guten Erfahrungen kommen Unternehmen aber nicht immer zum gleichen Ziel, obwohl sie von sich sagen, den gleichen Aufwand zu betreiben. Einige meinen, die Erfolgswahrscheinlichkeit gleiche einem Münzwurf. Wie kann das sein?

Agil handeln versus agil sein

Auch wenn es agile Methoden heißt, ist Agilität keine Methode. Es ist auch kein Werkzeug, um bessere Software zu schreiben oder ein Framework, das jeder lernen und anwenden kann, wie die Regeln eines Spiels. Vielmehr setzt sich Agilität aus verschiedenen Werten und Prinzipien zusammen, oder kurz: aus Glaubenssätzen, um besser zu entscheiden und schneller zu einem Ergebnis zu kommen. Das agile Manifest (Beck et al., 2001) nennt vier dieser Glaubenssätze, an denen sich z. B. Scrum, Kanban & Co. orientieren:

1. Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
2. Funktionsfähige Produkte sind wichtiger als umfassende Dokumentationen.
3. Zusammenarbeit mit Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung.
4. Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

Wer diese Glaubenssätze liest, fragt sich häufig, wie er oder sie jetzt danach handeln soll, um agil zu sein. Gerade Neulinge auf diesem Gebiet wissen nicht gleich, wo sie starten sollen, und suchen deshalb zunächst nach agilen Werkzeugen, nach etwas, das sich sofort anwenden lässt und von anderen wahrgenommen wird. Simon Powers (2006) nennt das die agile Zwiebel (agile onion) in deren Kern bewährte Werkzeuge und Techniken für agiles Arbeiten stecken (vgl. Abbildung 1). Dazu gehören beispielsweise Daily Meetings, Retrospektiven und Story Points. Doch genau wie ein Hammer niemanden zum Handwerker macht, machen agile Techniken allein niemanden zum Pionier für Agilität. Wichtiger noch als die Werkzeuge, die für jeden sichtbar sind, weil sie offensichtlich etwas an der Art zu arbeiten verändern, sind die zu verinnerlichenden Werte. Sie lassen sich weniger leicht erkennen, sind es aber, die erst zu den gewünschten Ergebnissen im Unternehmen führen. Menschen verständigen sich am besten über Werte, nicht über Abläufe, denn das macht sie nahezu beliebig austauschbar – und verhindert Spitzenleistungen. Grund dafür ist einer der wichtigsten Werte im Arbeitsleben: Vertrauen zwischen Menschen. Genau das aber geht verloren, wenn Menschen nur noch in einen vorher festgelegten Ablauf vertrauen, statt sich gegenseitig Vertrauen zu schenken. Mit dem Vertrauen verlagert sich zudem auch die Verantwortung auf den Prozess, weil das Individuum nicht mehr selbst zu entscheiden braucht, was zu tun ist. Das verstößt nicht nur gegen die agilen Glaubenssätze, sondern erfüllt gleich zwei von fünf Kriterien, die Patrick Lencioni identifiziert hat, warum Teams scheitern (Lencioni, 2002). Die weiteren drei sind, neben fehlendem Vertrauen und fehlender Verantwortung, die Angst vor Konflikt, fehlende Verbindlichkeit (Commitment) und Unaufmerksamkeit gegenüber den Resultaten. Deshalb dürfen flache Hierarchien und kleine Teams, die selbst verantwortlich sind und entscheiden sollen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben. Beides leitet sich unmittelbar aus dem agilen Mindset ab (vgl. Hofert, 2018, S. 20ff.). Der Personaldienstleister Hays hat festgestellt, dass agile Teams nicht nur besser entscheiden und Prioritäten richtig setzen, sondern auch die Beteiligten besser einbinden und sich viel stärker an dem orientieren, was Kund*innen sich wünschen (Hays 2015, S. 16). Aktuellere Studien kommen zu ähnlichen, wenn auch weniger detailliert aufgeschlüsselten Ergebnissen. Was sie alle gemeinsam haben: Sie beziehen sich auf Organisationen, die agile Glaubenssätze bereits verinnerlicht haben.

 

Ansonsten würden die Führungskräfte nicht entlastet, sondern wären damit beschäftigt, agile Werkzeuge einzuführen und ihr Team zwar mit anderen Methoden zu steuern, aber eben doch immer noch zu steuern. An genau dieser Schwelle stehen viele Unternehmen. Sie führen agile Werkzeuge ein und trainieren sich an, danach zu handeln. Doch agile Glaubenssätze tatsächlich zu verinnerlichen und dafür zu sorgen, dass sich die Teams wirklich selbst verantwortlich fühlen, sie zu ermutigen, selbst zu entscheiden, das ist für viele noch ein weiter Weg (vgl. Lasnia & Nowotny, 2018, S. 41ff. und S. 82f.). Dafür müssen sich Unternehmen in Teilen neu erfinden. Wenn man so will, geht es darum, den Sprung aus dem Kern der Zwiebel (vgl. Abbildung 1) in die äußeren Schalen zu schaffen. Dorthin, wo die agile Organisation anfängt, sich zu verselbständigen. Daran, an dem letzten Quäntchen Mut, scheitert manch agile Transformation.

Neun Irrtümer im agilen Alltag

Wie schmal der Grat zwischen gerade noch klassisch und gerade eben schon agil sein kann, sollen die folgenden Beispiele aus der Praxis zeigen. Wer regelmäßig in agilen Teams oder in Teams arbeitet, die es noch werden wollen, dürfte sich hier wiederfinden.

1. Wir sind jetzt agil. Wir machen Dailys. Darin stecken gleich zwei falsche Annahmen. Die Aussage ersetzt nur eine Methode durch eine andere. Über den Individuen stehen, anders als das agile Mindset vorschlägt, weiterhin Prozesse. Wer so spricht, befindet sich tief im Innern der agilen Zwiebel und vermutet wohl, dass sich durch die agilen Werkzeuge automatisch ein besseres Ergebnis einstellt. Daraus ergibt sich eine mögliche Gefahr: Cherry Picking, also sich aus klassischen und agilen Methoden das auszusuchen, was dem Entscheider gerade nützt. Dann fühlt es sich für die Mitarbeitenden so an, als wäre Agile nur eine zusätzliche Belastung, weil das Daily eben täglich stattfindet, statt des vormals wöchentlichen Jour Fixes. Praktisch heißt das, es geht so weiter wie bisher. Das Unternehmen gewinnt dadurch nichts, denn: «A fool with a tool is still a fool» (Ron Weinstein). Scrum, aus dessen Baukasten das Daily stammt (vgl. Abbildung 2), ist eine Heuristik. Sie bedient sich der agilen Glaubenssätze, um hochkomplexe Probleme zu lösen, die sich nur schwer beschreiben und deshalb schwer in die klassische Wasserfallplanung übersetzen lassen. Die Dailys dienen dazu, sich gegenseitig auf den aktuellen Stand zu bringen und zu besprechen, wer was als nächstes tut – sie sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem normalen Scrum Cycle alles passiert.

 

2. Wir brauchen keinen Plan. Wir sind agil. Agil sein, heißt nicht, auf einen Plan ganz zu verzichten. Wer so vorgeht, lässt seine agilen Teams nackt im Wind stehen. Zwar brauchen die Kolleg*innen keinen bis zur Abnahme getakteten Plan. Wohl aber eine Idee, Vision oder Zielvorgabe, worauf das agile Projekt hinlaufen soll. Dazu gehört auch, Pläne zu schmieden, und zwar kontinuierlich, kleinteilig und innerhalb des Teams. Von außen muss deshalb das Warum oder das Was kommen sowie Grundvertrauen darin, dass sich ein agiles Team selbst organisiert (vgl. Triest & Arend, 2019, S. 157ff.) und aufgabenbezogen Pläne fasst.

3. Ich entscheide nichts. Auch nicht der Product Owner. Viele Unternehmen trauen sich nicht oder nur zaghaft, Verantwortung an den Product Owner eines agilen Teams abzugeben. Wenn es wirklich wichtig wird, sollen immer noch Gremien entscheiden oder diejenigen, die vor einer agilen Transformation schon auf den richtigen Stühlen saßen. Das geht fast immer schief, weil sich ein Product Owner dann verhält wie jemand, der ein Projekt leitet – und so zum Spielball der Geschäftsleitung verkommt. Tatsächlich sollen Product Owner aber die einzigen sein, die ins Team kommunizieren und Anforderungen formulieren. Ihre Aufgabe ist es, Bedürfnisse innerhalb der Organisation zu erkennen und zu priorisieren. Wo das nicht passiert, sollten die Unternehmen ihre agilen Rollen klären (vgl. ebd. S. 105ff., 159ff. und Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 53ff., insb. S. 60–63).

4. Wer zum Teufel hat das verbockt? Das ist eine gefährliche Frage, weil sie nach Schuldigen sucht, statt zu betonen, was das Team aus einem Fehler gelernt hat. Fehler zu machen, ist in der agilen DNA fest verankert, weil es darum geht, sich einem großen Problem in kleinen Schritten zu nähern und ständig zu schauen, was funktioniert und was nicht. Dahinter steckt ein völlig anderes Menschenbild als jenes der industriellen Revolution, die Arbeitsteilung, Planung und möglichst wenig Irritationen als ideal betrachtet (Taylorismus). Agile Teams gehen von einer systemisch-konstruktiven Haltung aus: «Jeder Mensch handelt aus seiner Sicht im jeweiligen Augenblick und Kontext sinnvoll» (Oestereich & Schröder, 2019, S. 18). Mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, untergräbt dieses Ideal und unterminiert den freien Fluss der Ideen in Teams, weil jeder damit rechnen muss, an den Pranger gestellt zu werden.

5. Unsere Kundenberater*innen wissen am besten, was die Kund*innen wollen. Hinter dieser häufig getroffenen Fehlannahme steckt die Idee, dass Mitarbeitende und Kund*innen gleich oder zumindest äquivalent handeln und denken. Was wir gut finden, finden sie auch gut. Wer aber auf unterstellten Wünschen beginnt, ein Projekt durchzuführen, riskiert viel. Schlauer ist es, ständig zu validieren, ob das, was das eigene Unternehmen gerade entwickelt, dem entspricht, was der Markt will. Immerhin basiert das gesamte agile Mindset darauf, die Welt als ständig in Bewegung wahrzunehmen. Diese Bewegung aber können Mitarbeitende erfahrungsgemäß nicht simulieren, weil sie sich permanent mit ihrem eigenen Anschauungsobjekt – dem neuen Produkt oder dem nächsten Update – auseinandersetzen. Kund*innen dagegen beschäftigen sich damit nur genau in dem Augenblick, in dem sie ein Angebot nutzen. Darum gilt: So früh wie möglich die Zielgruppe um Rat fragen und sie dauerhaft einbinden.

6. Wir bauen den goldenen Henkel schon im MVP. Ein MVP – Minimal Viable Product – ist das am ehesten lauffähige Produkt und darum notwendigerweise nicht perfekt. «Verabschiede dich von perfekt, freunde dich an mit erledigt», schreibt Maria-Xenia Hardt (2021) über ihre Doktorarbeit, die sie teils unter erheblichem Zeitdruck erstellt hat. Das gilt beispielhaft für jedes agile Projekt. Nicht, dass man es nicht besser machen könnte, doch dafür bleibt noch Zeit, wenn es erstmal funktioniert. Zudem bestehen zwei gravierende Risiken, falls das MVP bereits einen vermarktungsfähigen Zustand (MMP) erreicht. Erstens wird häufig das Budget gekürzt, weil das Produkt angeblich fast fertig ist, und zweitens verlängern sich die Release-Zyklen, da sich niemand traut, ein unfertiges Produkt zu veröffentlichen. Reihenhäuser statt Luftschlösser bauen, führt eher zum Erfolg.

7. Straffer Zeitplan und knappe Ressourcen? Mit Scrum bekommen wir das hin! Die Wahrheit ist, dass sich Projekte mit Scrum meist aufwändiger, weniger schnell und mit höheren Kosten als mit einem vergleichbaren, klassisch als Wasserfall geplanten Projekt umsetzen lassen. Der Grund: Scrum versteht sich nicht als Liefermaschine, sondern als Heuristik um zu lernen. Wenn keine Zeit dafür besteht, Wissen aufzubauen, auszuprobieren und zu lernen, eignet sich Scrum nicht für das vorgesehene Projekt. Vielmehr baut die Entscheidung, Scrum einzusetzen, unnötigen Druck auf das Scrum-Team auf, bloß rechtzeitig fertig zu werden. Das Problem: Scrum macht inspect and adapt stark (vgl. Sutherland, 2002, S. 15–17), nicht follow suit, also stumpf dem zu folgen, was andere vorgeben – und sei es nur die Vorgabe, einfach zu machen, statt dem Sinn und Zweck agiler Methoden zu genügen und den Teams die Zeit einzuräumen, die sie brauchen, um zu lernen und sich zu verbessern. Besonders gefährlich ist dieses Vorgehen, wenn es bereits erfolgreiche Scrum-Projekte im Unternehmen gibt. Deren Sinn droht nachträglich Schaden zu nehmen.

8. Selbst mitdenken müssen, stand aber nicht in der User Story. User Stories müssen einfach geschrieben sein und nicht mit zu vielen Details überladen. Hänge das Bild im Kinderzimmer 1,50 Meter über dem Boden, 2 Meter von der rechten Wand entfernt mit einem 3cm Nagel auf und setze den Hammer im 45-Grad-Winkel an und schlage genau dreimal kräftig zu, ist keine sinnvolle User Story, wenn es darum geht, ein Bild aufzuhängen, ohne, dass es runterfällt. Im schlimmsten Fall trifft derjenige, der diese Anweisungen ausführt, die Stromleitung. Details auszuarbeiten und auftretende Schwierigkeiten zu umgehen, gehört zu den Kernaufgaben des agilen Teams. Vorab sollten alle beteiligten Personen klären, ob jeder den Kontext und das Ziel des Kunden – die User Story im wörtlichen Sinne – versteht. Das reicht. Anderenfalls gilt das berühmte Sprichwort: shit in, shit out.

9. Ich habe leider keine Zeit für die Retro. Wer die Retrospektive schwänzt, um keine Zeit für den nächsten Sprint zu verlieren, höhlt inspect and adapt (vgl. ebd.) aus und verhindert so, dass das Team lernt. Zudem bauen sich möglicherweise Spannungen auf, falls sich jemand im Team übergangen oder nicht ausreichend gewürdigt fühlt. Diesen Konflikt tragen Betroffene mit sich herum und stecken damit schlimmstenfalls alle anderen an. Weil niemand von diesen Befindlichkeiten weiß, bleibt unentdeckt, ob es sich um einen unglücklichen Einzelfall handelt oder um etwas, das andere Kolleg*innen genauso empfinden. Ein womöglich ernstes Problem bleibt unausgesprochen. Das ist Gift für die gesamte Firmenkultur. Wer skeptisch zu den Retros eingestellt ist, lässt sich häufig mit einer Scrum-Simulation überzeugen, dass sie sinnvoll sind und das Team weiterbringen.

Agilität richtig verankern

Fast alle diese Beispiele, warum Agilität im Unternehmen scheitert, lassen sich darauf zurückführen, dass viele Führungskräfte die neuen Methoden einfach verordnen. Ihnen ist nicht klar, dass sie sich für mehr als nur einen Werkzeugkasten entscheiden. Wer agile Teams fördern und deren Erfolg sicherstellen will, muss sich auf einen kulturellen Wandel einlassen, der auch Auswirkungen auf etablierte Führungskräfte hat. Dafür sollten sich Organisationen bewusst entscheiden (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 3–14). Das setzt auch voraus, zuerst das richtige Umfeld zu schaffen, damit agile Methoden florieren – agil sein zu wollen, weil das jetzt alle machen, führt dagegen nahezu sicher zu Frustrationen. Führungskräfte sollten nicht bloß imitieren was andere machen oder was in Büchern steht. «Being Agile» und «Agile Doing» unterscheiden sich stark voneinander, insbesondere darin, was erreicht werden soll – in der Beratersprache ist das der Impact. Und der findet vor allem im Kopf statt. Scrum, Kanban & Co. zielen darauf, das Lernen zu vereinfachen. Sie schaffen Räume, um sich auszutauschen und stellen Formate und Methoden vor, die das agile Mindset fördern. Sie stellen das Warum über das Wie. Darum ist agil sein auch so anstrengend, weil sich agile Teams das Warum permanent vergegenwärtigen müssen und keinen vorab gefassten Plan abarbeiten. Agilität gilt als ein Wertesystem zweiter Ordnung, das für obligatorisch und nicht optional hält, das Wozu und Wohin immer wieder von neuem auszuleuchten (Oestereich & Schröder 2019, S. 22).

Auf diese Klärung lassen sich alle agilen Methoden und Frameworks zurückführen. In seinem Aufsatz «Aufbruch in das Ungewisse» in OrganisationsEntwicklung Heft 4/2020 nennt Alexander Nicolai dies die «Logik des iterativen Innovierens», die sich innerhalb der agilen Teams abspielt und die für Unternehmen als übergeordnetes Leitbild dienen sollte, und erklärt, warum es sich dabei um einen «zeitlosen Kern» von Agilität handelt. Er beschreibt, wie aus der Not und einer simplen Webseite heraus Airbnb entstand. Die ersten drei Buchungen waren der MVP und noch nicht das fertige Produkt. Transferwise, Dropbox oder die Digitalbank N26 seien auf eine ähnliche Weise großgeworden. N26 ist auch deshalb ein gutes Beispiel, weil das Unternehmen derzeit mit der Bankenaufsicht im Clinch liegt. Im Juli 2021 hat die BaFin gegen N26 eine Geldbuße von 4,25 Mio. Euro verhängt, weil die Bank Lücken bei der Geldwäscheprävention nicht rechtzeitig geschlossen hat (BaFin, 2021). Hier prallen zwei völlig verschiedene Weltbilder aufeinander. Nicolai rät deshalb, Iterationsbarrieren abzubauen und sich eine flexible Distanz zum «operating core» zu erlauben: «Weit genug entfernt, um möglichst frei iterieren zu können, nah genug, um erfolgskritische Ressourcen hebeln zu können …» (Nicolai 2020).

Wer sich für dieses Mindset öffnet, bleibt ständig in Bewegung. Zwar gibt es auch in einer agil organisierten Arbeitswelt hin und wieder Aufgaben, die keinen Spaß machen. Eine Routine, die nicht selten zum Boreout führt, stellt sich dagegen kaum ein, weil verinnerlichte Agilität bedeutet, niemals an einem bestimmten Ziel anzukommen. Kein Unternehmen kann insofern jemals abschließen, sich agil zu transformieren. Auf den erreichten Gipfel folgt immer schon der nächste Change (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen 2021, S. 180–192). Wer agil mit Hilfe eines Transformationsteams werden möchte, sollte sich deshalb davor hüten, dieses Team später aufzulösen, sondern sich stattdessen fragen, wie es dazu beitragen kann, die agile Botschaft im Unternehmen weiterzutragen.

 

Sophie Hummel
Partner Senacor Technologies

Ann-Katrin Stehle
Senior Consultant Senacor Technologies, Frankfurt am Main

 

Literatur

• BaFin (2021). N26 Bank GmbH: BaFin setzt Geldbußen fest. https://zoe.ch/bafin
• Beck, K. et al. (2001). Agile Manifesto. www.agilemanifesto.org, zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021.
• Hardt, M.-X. (2021). Silicon-Valley Methoden im Studium: Verabschiede dich von «perfekt», freunde dich an mit «erledigt». Der Spiegel. https://zoe.ch/erledigt-statt-perfekt
• Hays AG (2015). Von starren Prozessen zu agilen Projekten: Unternehmen in der digitalen Transformation. https://zoe.ch/haysdigitransformation
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset: Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer-Gabler.
• Komus, A. et al. (2020). Studie Status Quo (Scaled) Agile 2019/2020. Hochschule Koblenz. www.status-quo-agile.de
• Lasnia, M. & Nowotny, V. (2018). Agile Evolution: Eine Anleitung zur agilen Transformation. BusinessVillage.
• Lencioni, P. (2002). The Five Dysfunctions of a Team: A Leadership Fable. Jossey-Bass.
• Nicolai, A. (2020). Aufbruch in das Ungewisse: Die Logik des iterativen Innovierens als zeitloser Kern agiler Innovationsmethoden. OrganisationsEntwicklung, Heft 4/2020, 46–51.
• Oestereich, B. & Schröder, C. (2019). Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. Vahlen.
• Powers, S. (2006). What is Agile? Adventures with Agile. https://www.adventureswithagile.com/2016/08/10/what-is-agile/
• Schmiedlinger, C., Rasche, C., Thonfeld, E. & Tuchen, K. (2021). Agile Transformation. Der Praxisguide zum Change abseits des Happy Paths. Hanser.
• Sutherland, J. (2015). Die Scrum-Revolution. Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen. Campus.
• Triest, S. & Ahrend, J. (2019). Agile Führung: Mitarbeiter und Teams erfolgreich führen und coachen. mitp Verlag.


Kooperation als Grundsatzentscheidung

Facilitator Adam Kahane im Gespräch

Zusammenarbeit ist kein Wert an sich, sondern eine Abwägung von Kosten, Nutzen und der Mühsal der Auseinandersetzung mit anderen. Ein Gespräch mit Facilitator Adam Kahane, Direktor von Reos Partner in Montréal, über das Beseitigen von trennenden Hindernissen und die Entscheidung, welche Gesamtheit an Interessen gerade von Bedeutung ist.

ZOE: Bei der Lektüre Ihres Buchs hatte ich irgendwie die Vorstel­lung, dass Ihnen da jeder mehr oder weniger zustimmen müsste. Warum scheitern wir trotzdem so oft in der Zusammenarbeit?

Kahane: Das ist eine gute Frage. Das Interessante daran ist: Wenn es derart einleuchtend ist, warum denken dann so viele Leute, dass sie konventionelle Kollaboration machen müssen – und welche Risiken birgt das? Sie haben da einen nützlichen Begriff verwendet: Es ist eine rationalistische Herangehensweise. Mein Lehrer Kees van der Heijden argumentiert, dass die Arbeit der rationalistischen Schule zu Unternehmensveränderung und -strategie sowohl ubiquitär als auch lächerlich ist. Denn wenn man sich die Bedingungen ansieht, die für einen rationalistischen Ansatz in der Praxis notwendig sind, wird man erkennen, dass sie fast nie erfüllt werden. Man kann also sagen, dass irrationalerweise ein rationalistisches Paradigma dominiert.

Die Leute mögen die Idee von Zusammenarbeit zwar gut finden, tatsächlich aber ist Zwang die kulturelle Norm. Man könnte es auch als die eigennützige Option bezeichnen. Das hat zur Folge, dass Leute oft behaupten, dass sie zusammenarbeiten, aber eigentlich Zwang anwenden. Das ist pure Manipulation. Deshalb habe ich den Begriff Stretch gewählt: Es ist eine Dehnung wie beim Work-out im Fitnessstudio. Sie fühlt sich unbequem, seltsam und schmerzhaft an, bis man sich daran gewöhnt hat.

ZOE: Sie haben in der ganzen Welt gearbeitet, häufig Friedens­ prozesse moderiert, etwa in Südafrika, Kolumbien, Ecuador oder Thailand. Gibt es da signifikante Unterschiede oder ist es dieselbe Art der Zusammenarbeit wie in Unternehmen?

Kahane: Diese Situationen sind alle unterschiedlich und doch alle gleich. Von meinem Naturell her interessiere ich mich für das, was gleich ist, ich nähere mich diesen Dingen im Guten wie im Schlechten auf einer hohen Abstraktionsebene und sehe die Ähnlichkeiten.

Ich würde nicht sagen, dass meine Arbeit zwangsläufig Friedensarbeit ist, aber sie findet, ebenso wie die Arbeit von Reos Partners, zu hundert Prozent in Multi-Stakeholder-Systemveränderungsprozessen statt. Dabei handelt es sich um Personen, die i. d. R. in keiner formalen hierarchischen Beziehung stehen. Es kann durchaus gewichtige Macht- oder Ressourcenunterschiede zwischen ihnen geben, aber sie befinden sich nicht in derselben Organisationshierarchie.

Normalerweise kann niemand verfügen oder erzwingen, wie etwas gemacht wird. Zumindest nicht im Projekt an sich. Meiner Erfahrung nach verlangt eine Systemveränderung mit vielen Stakeholdern die Konzentration auf echte Zusammenarbeit, weil keiner eine Antwort erzwingen könnte. Alle Beteiligten haben immerzu die Option, auszusteigen. Sie sind freiwillig da und weil sie jederzeit gehen können, besteht der Bedarf nach Zusammenarbeit – es muss aufrichtig zugehen, kollaborativ und mehrere Gesamtheiten müssen bedient werden.

ZOE: In Ihrem neuen Buch «Facilitating Breakthrough» geht es um die vertikale und horizontale Dimension der Zusammenarbeit. Wie beeinflussen diese Zusammenarbeit?

Kahane: Das Buch gibt eine Neudefinition des Facilitators als jemand, der die Zusammenarbeit unterstützt. Diese Rolle kann von einem Berater, einer Führungskraft oder einem Manager, einem Teammitglied oder einem Coach übernommen werden. Konventionelle Zusammenarbeit ist meistens das, was ich vertikale Kollaboration nenne. Vertikal bedeutet hier lediglich, dass es ein Hierarchiegefälle zwischen dem Größeren und dem Kleineren sowie dem Oberen und dem Unteren gibt. Zum Beispiel, dass die einzelne Person gegenüber der Abteilung nachgeben muss, diese wiederum gegenüber  dem  Unternehmen als Ganzes sowie der Junior gegenüber dem Senior und der Nicht-Experte gegenüber dem Experten. Vertikale Facilitation ist durch die Gewichtung charakterisiert, beziehungsweise die Verwendung von Hierarchie, um einen Weg zu finden. Ich würde sagen, dass vertikale Facilitation die häufigste Form ist, sogar unter Facilitatoren, die sich selbst als sehr egalitär verstehen. Die Vorstellung, dass der Größere über dem Kleineren und der Obere über dem Unteren steht, ist in den meisten Kontexten derart grundsätzlich, dass sie Standard ist.

Dann gibt es eine weitere gebräuchliche Art der Facilitation: Ich nenne sie horizontale Facilitation. Hier ist Gleichwertigkeit das Prinzip. Oberste Priorität hat nicht das Wohl des Teams, des Unternehmens oder der Aktion als Ganzes, sondern das Wohl jedes einzelnen Teilnehmenden. Die Vorteile horizontaler Facilitation sind Autonomie und Vielfalt. Die Nachteile sind Zersplitterung und völliger Stillstand.

Leute behaupten oft zusammenzuarbeiten, aber eigentlich wenden sie Zwang an.

ZOE: Also braucht es letztlich eine Entscheidung für die eine oder für die andere Richtung?

Kahane: In meinem Buch argumentiere ich auf Basis dieser Definition, dass wir sowohl vertikale als auch horizontale Facilitation anwenden müssen, wenn wir systemischen Wandel ermöglichen wollen – sei es in Unternehmen oder in anderen sozialen Kontexten. Das ist eine klassische Polarität, wie sie Barry Johnson in seinem Buch über Gegensätze beschreibt, deshalb geht es nicht darum, die eine oder die andere Möglichkeit zu wählen. Es geht auch nicht darum, einen Kompromiss zu finden, sondern darum, zwischen horizontal und vertikal zu wechseln. Genau das nenne ich «Transformative Facilitation». Diese wechselt zwischen vertikaler und horizontaler Facilitation, um die oben erwähnten Nachteile zu reduzieren. Wenn man feststellt, dass man mit der horizontalen Facilitation zersplittert und zum Stillstand kommt, wechselt man zur vertikalen und so weiter. Das Hin- und Herwechseln ermöglicht das Vorwärtskommen.

ZOE: Wir sprechen über Facilitation. Was empfehlen Sie jeman­dem, der in einem Unternehmenskontext versucht, Zusammenar­beit zu fördern und zu unterstützen?

Kahane: Ein Facilitator ist jemand, der Zusammenarbeit möglich macht. Es ist mir wirklich ein Anliegen, den Begriff neu zu definieren. In einer Welt, in der Zwang eine begrenzte Reichweite hat, ist es unabdingbar, dass eine der primären Rollen von Führungskräften, Managern und anderen Teammitgliedern die Rolle des Facilitators ist. Dazu muss ich die Geschichte erzählen, in der das Buch seinen Ursprung hat: 2017 war ich Facilitator in einem Workshop in Uganda, nachdem das Friedensabkommen unterzeichnet worden war. Dieser brachte ehemalige Guerillas, Politiker, CEO und indigene Anführer zusammen, die eben erst einen 52-jährigen Bürgerkrieg beendet hatten. Dabei war auch ein Mann, den ich bereits vorher getroffen hatte und von dem ich überrascht war, ihn dort zu sehen: Francisco de Roux, er ist in Kolumbien sehr bekannt und war früher das Oberhaupt der dortigen Jesuiten. Erst in der Vorwoche war er zum Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission ernannt worden. Auf die Frage, warum er hier sei, antwortete er, er habe gerade diesen neuen Job übernommen und es könnte dafür hilfreich sein, teilzunehmen. Am Ende des ersten Tages kam er auf mich zu und erklärte: Adam, ich erkenne, was du da tust. Ich antwortete, ok, cool – und was tue ich? Er sagte: Du beseitigst, was den Ausdruck des Geheimnisses behindert.

ZOE: Und was bedeutet das?

Kahane: Dieser Satz war die Inspiration für das neue Buch. Zwei Dinge folgen daraus. Erstens: Die meisten Facilitators, Führungskräfte und Manager denken, ihre Hauptaufgabe bestehe darin, Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun. Francisco hat mir geholfen zu realisieren, dass man das so gut wie nie schafft. Ich kann meinen Lebenspartner oder meine Lebenspartnerin nicht dazu bringen, etwas zu tun, nicht meine Kinder, nicht meine Katze. Ich kann Leute, über die ich keine hierarchische Macht habe, nicht dazu bringen, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Deshalb ist Facilitation ein sehr interessantes Prinzip. Denn es geht darum, wie man einen Beitrag in der Welt leistet, auch ohne, dass man es schafft, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun. Francisco bringt es auf den Punkt: das Entscheidende ist nicht, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, sondern das Entscheidende ist, die Hindernisse zu beseitigen. Das ist eine ganz andere Perspektive, auf Facilitation und Management zu blicken.

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Adam Kahane – Biografie

Adam Kahane ist im kanadischen Montréal Direktor von Reos Partners, einem internationalen Sozialunternehmen, das Menschen dabei hilft, bei ihren wichtigsten und schwierigsten Problemen gemeinsam voranzukommen. Als Facilitator ist er rund um den Globus aktiv als Organisator, Gestalter und Vermittler von Prozessen, in denen Führungskräfte aus Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft gemeinsam an der Lösung von Herausforderungen arbeiten. Systemische Transformation, komplexe Situationen und die Lösung von Konflikten sind Adam Kahanes Spezialgebiete. Er hat in über fünfzig Ländern und in allen Teilen der Welt mit Führungskräften, Politikern, Generälen, Guerillas, Beamten, Gewerkschaftern, Gemeindeaktivisten, Vertretern der Vereinten Nationen, Geistlichen und Künstlern gearbeitet.

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ZOE: Was bedeutet es für einen Manager oder eine Beraterin kon­kret, die Hindernisse für Zusammenarbeit zu beseitigen?

Kahane: Von Paul Tillich gibt es das Buch «Liebe, Macht und Gerechtigkeit». Er formuliert sehr spezifische Definitionen, die sich vom üblichen Gebrauch dieser Begriffe unterscheiden. Macht, die alles antreibt, um sich selbst zu realisieren. Liebe als der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Und Gerechtigkeit als Struktur, die dafür sorgt, dass die Macht der einen, nicht die Macht der anderen auslöscht. Ich finde diese Definitionen gewaltig, sie erklärt viele Phänomene, denen wir der der Rolle als Facilitator und Manager*in begegnen. Um die Frage also mittels dieser Definitionen zu beantworten: Macht zu ermöglichen oder Hindernisse zu beseitigen, die Macht verhindern, bedeutet, jeden dazu zu befähigen, zu der zu erledigenden Sache das beizutragen, was er oder sie kann. Das bedeutet, Chancen zur Beseitigung kultureller, hierarchischer oder organisatorischer Hürden – jener Hürden, die eine Beteiligung an einem kollektiven Konzept oder eine Zusammenarbeit verhindern – zu erkennen, solche Chancen zu kreieren und ihnen Raum zu geben.

ZOE: Gibt es da noch mehr?

Kahane: Eine weitere praktische Umsetzung ist, die Hindernisse vor jenem zu entfernen, was ich Liebe nenne, quasi der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Auch hier gibt es strukturelle Hürden, die verhindern, dass unterschiedliche Einheiten miteinander verbunden sind und sie so zu Silos machen. Hindernisse für die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmensmitarbeitenden oder zwischen Community-Mitgliedern und Mitarbeitenden. Hindernisse für die Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinem sozialen und natürlichen Umfeld. Man könnte auch hinzufügen: Hindernisse für die Beziehung zwischen einer Person und ihrem eigenen Selbst. Das sind alles trennende Dinge. Und die praktische Aufgabe ist es, diese Hindernisse zu entfernen.

Das nächste Phänomen ist Gerechtigkeit, die für mich ein neues Element im Buch ist. Ich habe lange gebraucht, um das zu entpacken, um deutlich zu machen, dass die Strukturen entscheiden, ob einige Menschen etwas beitragen und sich verbinden, andere Menschen hingegen außenvorbleiben. Üblicherweise sind es meist Leute in höheren Positionen, die mehr Freiraum haben. Sie dürfen mit anderen sprechen, sie dürfen zu Meetings gehen, sie dürfen sich äußern, sie dürfen frei reden, sie dürfen neue Ideen vorschlagen. Wohingegen Leute in niedrigeren Positionen, Angehörige marginalisierter Gruppen, Minderheiten, Frauen oder Mitarbeitende mit direktem Kundenkontakt in den meisten Unternehmen weniger Möglichkeiten haben, etwas beizutragen und sich zu verbinden. Das ist unfair, ungerecht und hemmt Zusammenarbeit. In diesem Sinn versuche ich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Veränderungen man in der Struktur anstreben muss, um Beitrag, Verbindung und Gleichheit zu ermöglichen.

ZOE: Wenn Sie sich heute Ihren Ansatz ansehen: Was überrascht Sie selbst am meisten?

Kahane: Mich überrascht, dass der Gedanke an Alternativen zu Zwang, zu Herumkommandieren oder brutaler Hierarchie wahrscheinlich schon sehr lange existiert. Als ich «Collaborating with the enemy» geschrieben habe, war mir bewusst, dass die konventionelle Zusammenarbeit eine vertikale ist, aber nicht, dass ich mich einseitig auf die Nachteile konzentriere. Bei Shell arbeiteten wir mit Charles Hampden-Turner, der von Dilemmata spricht, statt von Gegensätzen. Sein Kernpunkt: Es ist der große Fehler von Unternehmen, fälschlicherweise zu glauben, sie hätten die Wahl, wenn sie vor einem Dilemma stehen. Tatsächlich – und das ist bemerkenswert – identifizierte Hampden-Turner ein Bündel an Dilemmata bei Shell, das in seiner Präzision so schockierend war, dass es intern im Unternehmen nur informell herumgereicht wurde. Sein eigentlicher Punkt war wunderbar: Zentralisierung versus Dezentralisierung oder explizite Dienstleistungsverträge versus informelle Absprachen sind z. B. keine Wahlmöglichkeiten, sondern Dilemmata. Und wer denkt, er hätte die Wahl, wird zehn Jahre Zentralisierung bekommen und dann zehn Jahre Dezentralisierung.

ZOE: Es gibt also kein Entweder-­oder?

Kahane: Der erste Satz meines Buches lautet: «Building forward together is becoming less straight forward.» Mein Wortspiel mit dem Ausdruck «straight forward» enthüllt, dass Zusammenarbeit eben nicht geradlinig ist. Sie ist eine Spirale. Man muss sich in ihr zurück- und vorwärts bewegen. Die wesentliche Fähigkeit ist dabei, wahrnehmen zu können, was gerade passiert und welchen Schritt man als nächstes machen muss. Das kann man nicht im Voraus prognostizieren.

ZOE: Mr. Kahane, vielen Dank für das interessante Gespräch.


Können Sie Change?

Was Veränderungskompetenz ausmacht

Veränderungskompetenz ist ein vielschichtiges Konstrukt. In sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen spielt sie eine immer größere Rolle. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie ein agiles Mindset (Hofert, 2018) kennzeichnen mittlerweile die Anforderungsprofile im Recruiting sowie der Personalentwicklung. Die Lust und Fähigkeit zur Veränderung wird zur Schlüsselkompetenz auf allen Ebenen in den Unternehmen. Doch was ist eigentlich eine «Veränderungs-kompetenz»? Um sie rekrutieren und entwickeln zu können, müssen wir unter die Oberfläche schauen.

Zunächst umfasst Veränderungskompetenz als sog. Meta-Kompetenz ein Set an Ressourcen, mit dem kognitive und praktische Fähigkeiten sowie soziale Verhaltenskomponenten wie Haltungen, Emotionen, Werte und Motivation mobilisiert werden. Das bedeutet ganz praktisch, Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens. Wissen und Können sowie die individuelle Motivation zum Wandel müssen zusammenspielen. So bedeutet das Vorhandensein von Veränderungsfähigkeiten (leider) noch lange nicht, dass die entsprechende Bereitschaft, sich auf das Neue einzulassen, ebenso ausgeprägt sein muss. Diesen Aspekt gilt es in Personalauswahl und -entwicklung zu berücksichtigen. Schauen wir uns dieses Zusammenspiel genauer an. Ein umfassendes Konzept zur Veränderungskompetenz von Mitarbeitenden legt Szebel (2015) vor. Veränderungskompetenz umfasst zunächst die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft (das Können und Wollen). Wissen und Erfahrung in Bezug auf  Veränderungsprozesse ist ein ebenso wichtiger Bestandteil wie die individuellen Persönlichkeitsdispositionen. Eingebettet ist der Mitarbeitende in den organisationalen Kontext und damit auch in den jeweiligen Veränderungskontext. Dieser stellt einen wichtigen Einflussfaktor vor allem auf die sog. spezifische Veränderungsbereitschaft dar (siehe Abbildung 1).

 

Verändern können – Zusammenspiel von Persönlichkeit und Fähigkeiten

Kompetent mit Veränderungen umzugehen, verlangt zum einen nach einem ganzen Set an verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wichtig ist hierbei festzustellen, dass Mitarbeitende über ein möglichst breites Verhaltensrepertoire sowie entsprechende entsprechende Handlungsstrategien verfügen, welche ihnen einen flexiblen Umgang mit verschiedenen Veränderungssituationen erlauben. Dieses Phänomen bezeichnet Szebel als «agile Anpassungsfähigkeit» (Szebel, 2015, S. 110). Sie umfasst die Selbststeuerung (Selbstreflexion, Resilienz) sowie die Flexibilität auf verschiedene Situationen entsprechend zu reagieren (Problemlösefähigkeit, Umgang mit Informationen) als auch die Fähigkeit zur Umsetzung (Fokussierung, Zielorientierung).

Zum anderen kommen auf Seiten der Persönlichkeit stabile, überdauernde Eigenschaften ins Spiel wie z. B. Selbstwirksamkeit, Optimismus, positives Selbstwertgefühl, Offenheit für Neues, Extraversion, Risikofreude, Ambiguitätstoleranz (einen Überblick liefert Vakola et al., 2013). Stabile Merkmale der Persönlichkeit bieten in Bezug auf Personaleinstellung oder -entwicklung die Möglichkeit der standardisierten Messung mit Hilfe von Fragebögen (z. B. NEO Fünf-Faktoren Inventar nach Costa & Mc Crae, 2008). Doch was damit erfasst wird, indiziert eher das Vorhandensein einer allgemeinen Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden.

Verändern wollen — Bedeutung der spezifischen Veränderungsbereitschaft

Die Unterscheidung in eine allgemeine und spezifische Veränderungsbereitschaft klärt die verschiedenen Reaktionsweisen von Mitarbeitenden im Wandel auf (siehe Abbildung 2).

Die spezifische Bereitschaft stellt eher eine emotionale und kognitive Einstellung gegenüber dem konkreten Veränderungsvorhaben dar. Sie ist damit durch den jeweiligen Veränderungskontext, also durch die Gestaltung des Change-Projektes, beeinflussbar. Wohingegen die allgemeine Veränderungsbereit als zeitlich stabil und änderungsresistent anzusehen ist, da sie auf Persönlichkeitsdispositionen beruht. Personen können sich demnach generell im Unternehmen als veränderungsbereit zeigen, «einen spezifischen Veränderungsprozess jedoch ablehnen» (Szebel, 2015, S. 106). Dies hat Implikationen für die Personalauswahl: Selbst wenn bei der Einstellung eine neue Mitarbeiterin z. B. Offenheit für Neues bewiesen hat (stabile, messbare Persönlichkeitseigenschaft), kann sich diese Mitarbeiterin trotzdem im konkreten Veränderungsprojekt gegen den Wandel stellen (spezifische, negative Veränderungsbereitschaft). Im konkreten Change-Vorhaben lässt sich jedoch die spezifische Haltung des Einzelnen durch die Gestaltung des Veränderungskontextes durch z. B. Kommunikation und Involvement beeinflussen. Damit wird die Bedeutung der motivierenden Change-Kommunikation nochmal deutlich (vgl. Dold & Röbcke-Gronau, 2018).

 

«Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens.»

Demnach sollte bei der Einstellung neuer Mitarbeitender auf die Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften geachtet werden, die positiv mit der allgemeinen Veränderungsbereitschaft zusammenhängen. Ebenso können die einzelnen Fähigkeiten zur Veränderung wie z. B. Selbstreflexion oder Problemlösefähigkeit mit etablierten Methoden der Eignungsdiagnostik wie simulative Verfahren oder biografische Verfahren erfasst werden. Geht es jedoch um die konkrete Bereitschaft, in einem Change-Projekt aktiv mitzuwirken, sind wir gefordert den organisationalen Kontext beziehungsweise den Change-Prozess zu gestalten.

 

Resistance to change oder readiness for change?
Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab. Besonders Aspekte wie «die wahrgenommene Unterstützung durch die Führungskraft, die Kommunikation der Veränderung, Möglichkeiten der Partizipation» (Szebel, 2015, S. 108) fördern die Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitenden in Bezug auf ein spezifisches Veränderungs-vorhaben. Diese Faktoren zur Gestaltung von Change-Projekten sind nicht neu. Ihre besondere Wirkung jedoch auf die spezifische Bereitschaft jedes Einzelnen erklärt, warum Change Agents trotz einer agilen Belegschaft auf Widerstand stoßen – auch als resistance to change bekannt (Erwin & Garman, 2010).

«Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab.»

Grundsätzlich wird empfohlen Widerstand als eine Form von Auseinandersetzung der Beteiligten zu verstehen, die hilfreich ist, um die Qualität organisationaler Entscheidungsprozesse im Change zu verbessern. Bedenken der Mitarbeitenden sprechen daher eher für eine aktive Auseinandersetzung und für ein gewisses Involvement, welches positiv zu sehen ist, im Gegensatz zu einer eher gleichgültigen Haltung gegenüber der Veränderung (Ford et al., 2008, Bateh et al., 2013). Damit ist die Wahrnehmung bzw. Reaktion der Organisation auf die Bedenken der Beteiligten entscheidend für den Erfolg eines Veränderungsprojektes. Erwin & Garman (2010) fassen zusammen, welche Faktoren in Veränderungsprozessen den Widerstand von Mitarbeitenden beeinflussen können: die Qualität von Kommunikation und Information über das Veränderungsvorhaben, das Verständnis der Beteiligten bezüglich der konkreten Erwartungen an sie, die persönliche Einschätzung, wie der Prozess ihr Arbeitsumfeld verändern wird und wie sie dabei tatsächlich unterstützt werden. Des Weiteren sollte die konsistente Kommunikation der Führungskräfte eine Einheit zwischen Inhalt und Verhalten darstellen (Vorbildwirkung des Managements). Ziel sollte es sein, Vertrauen bei den Beteiligten zu schaffen und Offenheit gegenüber der Veränderung zu erzeugen.

Widerstand kann jedoch nur zu Beginn eines Change-Programmes antizipiert werden und somit in die Planung integriert werden. Anders ist es bei der sogenannten readiness for change, dem proaktiven Verhalten gegenüber dem Change (Oreg et al., 2011). Readiness for change steht für eine umfassende Einstellung oder Haltung, die Veränderung kognitiv und emotional zu akzeptieren und daher den Status quo aktiv verlassen zu wollen. Wichtig ist hier die kognitive und emotionale Ebene im Change zu adressieren, z. B. über die Kommunikation oder Führung. Eine positive Veränderungsbereitschaft kann vor allem im Vorfeld des Change-Prozesses beeinflusst werden. Die zentralen Stellschrauben dafür lauten (Holt et al., 2007):

• Unter welchen Rahmenbedingungen findet der Change statt? – Interner Kontext
• Was genau soll geändert werden? – Changespezifischer Inhalt
• Wie sieht der Veränderungsprozess genau aus? – Transparenz über den Prozess

Für die spezifische Veränderungsbereitschaft ist es wichtig, dass die beteiligten Personen glauben, dass die Veränderung notwendig ist, dass sowohl sie als auch die Organisation über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, den Wandel zu bewältigen (Selbstwirksamkeit), und dass die Veränderung einen positiven Nutzen für sie hat (Rafferty et al., 2013). Die Handlungsempfehlungen, die sich in Bezug auf den Umgang bzw. die Gestaltung von resistance to change und readiness for change ableiten lassen, finden sich in Abbildung 4.

Fazit

Um Veränderungskompetenz zu fördern, muss man sowohl konkrete Fähigkeiten und Bereitschaften sowie Persönlichkeitsdispositionen des Mitarbeitenden in den Blick nehmen. In der  Personalauswahl und -entwicklung ist es hilfreich folgendes zu unterscheiden: stabile, messbare Merkmale, die der Personalauswahl dienen können und weniger stabile Merkmale, die beeinflussbar sind und im konkreten Change adressiert werden können. Für veränderungsresistente Persönlichkeiten wird es in Zukunft immer schwerer werden, in den sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen Akzeptanz zu finden. Hier werden dringend Konzepte benötigt, eine Persönlichkeitsentwicklung zumindest mittelfristig zu ermöglichen. Die Entscheidungshoheit liegt letztlich bei den Unternehmen: Der Wert bzw. Beitrag eines Menschen in der Organisation hängt vielleicht (?) nicht einzig und allein von dem Merkmal der Veränderungskompetenz ab.

 

Prof. Dr.-Ing. Ina Kohl
Business & Law School Berlin, Professorin für Wirtschaftspsychologie

 

Literatur

• Bateh, J., Castaneda, M. E. & Farah, J. E. (2013). Employee Resistance to Organizational Change. International Journal of Management & Information Systems (IJMIS), 17(2), 113-116.
• Costa Jr, P. T. & McCrae, R. R. (2008). The Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R). Sage Publications, Inc.
• Dold, S. & Röbcke-Gronau, C. (2018). Aufwärts, abwärts, seitwärts. Worum es bei erfolgreicher Kommunikation im Wandel heute gehen muss. OrganisationsEntwicklung, 37(4), 29-68.
• Erwin, D.G. & Garman, A.N. (2010). Resistance to organizational change: Linking research and practice. Leadership & Organization Development Journal, 31(1), 39-56.
• Ford, J. D., Ford, L. W. & D’Amelio, A. (2008). Resistance to change: The rest of the story. Academy of management Review, 33(2), 362-377.
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer Gabler.
• Holt, D. T., Armenakis, A. A., Feild, H. S. & Harris, S. G. (2007). Readiness for Organizational Change: The Systematic Development of a Scale. The Journal of Applied Behavioral Science, 43(2), 232-255.
• Oreg, S., Vakola, M. & Armenakis, A. (2011). Change recipients’ reactions to organizational change: A 60-year review of quantitative studies. The Journal of applied behavioral science, 47(4), 461-524.
• Rafferty, A. E., Jimmieson, N.L. & Armenakis, A. A. (2013). Change Readiness: A multilevel Re-view. Journal of Management, 39(1), 110-135.
• Szebel, A. (2015). Veränderungskompetenz von Mitarbeitern. Eine empirische Untersuchung zur differentiellen Konstrukterschließung der individuellen Veränderungskompetenz von Mitarbeitern unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses dispositionaler Persönlichkeitsfaktoren. Dissertation, Universität zu Köln.
• Vakola, M., Armenakis, A. & Oreg, S. (2013). Reactions to organizational change from an individual differences perspective: A review of empirical research. In S. Oreg, A. M. & R. By (Hrsg.): The Psychology of Organizational Change: Viewing Change from the Employee’s Perspective (pp. 95-122). Cambridge University Press.


Spielwiese und Impulsgeber zugleich

Wie Corporate Influencer die Organisation verändern

Mit praxisnahen Ergebnissen und Erkenntnissen sowie persönlichen Äußerungen der verschiedenen Netzwerkmitglieder, vermittelt diese explorative Fallstudie einen realistischen Eindruck davon, wie Botschafternetzwerke in ihren Grundzügen funktionieren und wie auch in anderen Unternehmen begünstigende Rahmenbedingungen für ein Entstehen hergestellt werden können.

Botschafternetzwerke sind ein recht neues Phänomen in der Organisationsentwicklung und setzen sich aus Mitarbeitenden der verschiedensten Funktionsbereiche und Hierarchieebenen eines Unternehmens zusammen. Diese sogenannten Corporate Influencer präsentieren geteilte Werte und fungieren auf digitalen Plattformen und in physischen Begegnungen als Botschafter*innen eines Unternehmens in der Öffentlichkeit. Unternehmensbotschafter*innen zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Engagement zum Teilen von Wissen und zur Verbreitung von unternehmensbezogenem Content nicht Teil ihrer Jobbeschreibung ist, sondern auf Freiwilligkeit und einer intensiven emotionalen Bindung zum Unternehmen beruht. Sie folgen dabei keinem Auftrag, sondern wählen ihre Themenschwerpunkte, Formate und Kommunikationskanäle selbstbestimmt aus. Dies fördert die Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz der einzelnen Botschafter*innen und verschafft dem Netzwerk zahlreiche Möglichkeiten zur Einflussnahme und Organisationsentwicklung. Denn für erfolgreiche Change-Prozesse ist die Beteiligung und Kooperation vielfältiger Organisationsmitglieder elementar.

In unserer Fallstudie haben wir die beiden Botschafternetzwerke der Deutschen Telekom AG (Telekom Botschafter) und der Daimler AG (influBenzer, Graswurzelinitiative) in Zusammenarbeit mit zwölf Teams von Studierenden und mithilfe semistrukturierter Interviews analysiert. Ziel war es herauszufinden, wie die Botschafternetzwerke ticken, was sie verbindet und unterscheidet und wie die Botschafternetzwerke auf die Studierenden, als nächste Generation von Manager*innen und Organisationsentwickler*innen, wirken. Der Konstruktion eines Fremdbilds durch neutrale Außenstehende folgte eine intensive interne Beschäftigung der Netzwerke mit ihrem Selbstbild und der Frage nach der Identität (Wer sind wir? Wo stehen wir? Was wollen wir verändern und wie können wir das erreichen?).

Besonderheiten von Botschafternetzwerken

Aus Sicht der Botschafternetzwerke ist jeder Mitarbeitende eines Unternehmens gleichzeitig ein möglicher Repräsentant der Organisation und sendet (mehr oder weniger intendiert und koordiniert) Botschaften nach innen (Kolleg*innen) und außen (Kund*innen, Gesellschaft). Die Netzwerke stellen einen hierarchiearmen und informellen Verbund dar. Die Mitglieder schätzen die hohe Diversität des Netzwerks in Bezug auf Standort, Funktionsbereich, Geschlecht und Alter der Mitglieder («Je diverser es ist, desto intensiver unsere Diskussionen. Und umso intensiver wird das, was wir zusammen tun», Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder zeichnen sich durch eine ausgeprägte Offenheit und Veränderungsbereitschaft aus und bringen ihre persönlichen Interessen und Stärken in die Netzwerkarbeit ein («In dem Netzwerk sind Leute, die gerne mit Menschen agieren, die gerne gemeinsam über Dinge sprechen und die auch gerne was verbessern wollen, im Unternehmen und für ihre eigene Situation», Mitglied der influBenzer).

Für die Unternehmensbotschafter*innen ist die Authentizität und kreative Freiheit des Netzwerks von zentraler Bedeutung («Deswegen finde ich es auch so schön, weil das Netzwerk aus engagierten Personen heraus entstanden ist und nicht aus der Firma heraus. Sonst hätte das nicht diesen Charme», Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder nehmen dadurch eine gemeinschaftliche Veränderungskraft wahr («Man hat das Gefühl, man ist Teil von etwas Größerem und kann mitgestalten», Mitglied der Telekom Botschafter).

Motivation der Mitglieder

Vielen Mitgliedern ist es persönlich sehr wichtig, nach innen wie außen zu vermitteln, wofür ihr Arbeitgeber steht. Das Engagement der Botschafter*innen ist stark von ihrer Leidenschaft und Verbundenheit zum Unternehmen geprägt (Stichwort #Werkstolz und #influBenzer). Zudem fühlen sie sich durch die Offenheit und Vielfalt des Netzwerks angezogen. Jeder Mitarbeitende ist willkommen, vorgeschriebene Beitrittskriterien gibt es nicht. Vielmehr definiert diese jeder für sich selbst: Was macht mich aus? Für welche Themen stehe ich? Wo (mit) kann ich helfen? «Wir wollen, dass Menschen sich wohl fühlen, dass sie sich gebraucht fühlen, eine Stimme haben, die sie einbringen können, ihre Kompetenzen einbringen können, Feedback bekommen (…). Und das treiben wir mit voran» (Mitglied der Telekom  Botschafter). Als Botschafter*innen organisieren sich diejenigen in Unternehmen, die Lust haben, einen Schritt weiter zu gehen und nicht in ihrer formalen Rolle zu verharren. «Für mich ist das einfach eine Gruppe an Menschen, die ein ähnliches Mindset haben, die ein Interesse daran haben, Dinge zu bewegen; die sich auch den Mund nicht verbieten lassen, denen es nicht darum geht, irgendetwas Schönzureden oder als Werbebotschafter oder so etwas aufzutreten, sondern die einfach ihre Meinung zu dem Thema haben – zu dem was bei uns passiert. Die auch dazu stehen und die keine Angst haben das zu äußern», Mitglied der influBenzer. Selbstbestimmung im Arbeitskontext, das Einbringen der eigenen Kompetenzen, spielt eine wichtige Rolle für die Motivation: «Dieses Gefühl, dass man selbst mitgestalten und nicht nur gesteuert wird als Arbeitskraft (…). Das ist eine Sache, die mich immer wieder bestätigt», (Mitglied der Telekom Botschafter). In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf kritische Aspekte innerhalb des Unternehmens aufmerksam gemacht. Neben der Organisationsentwicklung ist die persönliche Weiterentwicklung ein wichtiger motivierender Faktor für die Netzwerkmitglieder: «Je sichtbarer du wirst, umso besser werden deine Aufstiegschancen. Und so ein Netzwerk bietet riesengroße Chancen, sichtbarer zu werden», Mitglied der influBenzer.

Statt des Veränderungsanspruchs steht bei den Telekom Botschafter*innen vielmehr die Stärkung der Unternehmenskultur und die Stimmung unter den Mitarbeitenden ganz oben auf der Agenda.

Herausforderungen von Botschafternetzwerken

Botschafternetzwerke sind dann besonders authentisch und wirksam, wenn sie die Vielfalt des Unternehmens repräsentieren und nicht nur lokal verankert sind. Ausgeprägtes «Silo-Denken und -Handeln» einzelner Funktionsbereiche und Standorte erschweren dies jedoch. Ebenso ist es für viele Netzwerke herausfordernd, die «echten Schaffer» (Mitglied der influBenzer), also die Mitarbeitenden aus der Produktion oder aus den Lagern, abzuholen und zu integrieren. In vielen Initiativen dominieren zahlenmäßig «white collar» Mitarbeitende aus der Verwaltung und dem Management. Auch eine Internationalisierung des Netzwerks in global agierenden Konzernen stellt eine Herausforderung für die Selbstorganisation dar, ist aber eine große Chance für Vielfalt. Daneben haben die Netzwerke bisweilen mit Klischees zu kämpfen. Denn einige Aktivitäten können durchaus polarisierend wirken. Sowohl in der internen als auch in der externen Wahrnehmung stoßen bspw. die Telekom Botschafter*innen auf ungläubiges Unverständnis, wobei es als ungewöhnlich oder sogar exotisch betrachtet wird, wenn sich Mitarbeitende eines Unternehmens so deutlich und sichtbar mit ihrem Arbeitgeber, der Marke und der Gemeinschaft der Kolleg*innen identifizieren. «Für viele sind wir einfach laufende Werbefiguren» (Mitglied der Telekom Botschafter). In Anbetracht der Unternehmensgröße gibt es auch innerhalb des Konzerns eine sehr breite Diversität von Sichtweisen und Perspektiven und so finden sich auch innerhalb des Unternehmens Bereiche, Umfelder und Kolleg*innen, die mit der Initiative nichts anfangen können, der Community generell ablehnend gegenüberstehen oder einzelne Aktionen kritisch betrachten. Das wird von den Botschafter*innen akzeptiert und der konstruktive Austausch mit kritischen Stimmen ist für die Weiterentwicklung oft hilfreich.

«Authentizität und kreative Freiheit des Netzwerks sind von zentraler Bedeutung.»

Dass sich die Botschafter*innen durchaus kritisch mit Problemen im Unternehmen befassen und Impulse setzen («Wir beschäftigen uns durchaus auch mit Dingen, die aus unserer Sicht nicht so rund laufen, an denen wir noch arbeiten möchten – auch mit Hilfe unserer Reichweite», Mitglied der Telekom Botschafter), wird mitunter weniger wahrgenommen. Bei diesen Aktivitäten betreten die Botschafter*innen häufig Neuland und bewegen sich in den sozialen Medien teilweise in einer rechtlichen Grauzone («Muss ich das als Werbung kennzeichnen, wenn ich etwas über die Deutsche Telekom poste?», Mitglied der Telekom Botschafter). Die Netzwerkaktivität auf einem hohen Niveau zu halten und immer wieder neue Impuls nach innen und außen zu senden, bedeutet einen erheblichen persönlichen Aufwand.

Dieser Herausforderung begegnen die Mitglieder, indem der «Staffelstab» (Mitglieder der Telekom Botschafter) immer wieder weitergegeben wird und bei den verschiedenen Netzwerkaktionen wechselnde Personen in den Lead gehen. Die interviewten Botschafter*innen empfinden eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben mehr oder weniger herausfordernd. Jedes Mitglied entscheidet selbst, wie viel Zeit er oder sie der Netzwerkarbeit widmet (es werden keine «Aufträge» verteilt). Die meisten Botschafter*innen engagieren sich neben ihrer beruflichen Haupttätigkeit, das heißt sie suchen sich aktiv Freiraum oder verlagern ihre Botschafter-Aktivitäten in die Freizeit. Eine Vermischung von beruflichen Themen in das persönliche Umfeld und umgekehrt findet durch einen steigenden Anteil von selbstgesteuertem und eigenverantwortlichen Arbeiten in der aktuellen Situation (Flexibilität von Arbeitsorten, Homeoffice) ohnehin statt. Jedoch wird auch angemerkt, dass es «durch den Arbeitsalltag im Home-Office schwieriger geworden ist, sich in losen Initiativen, die nicht dem Arbeitsergebnis zugeteilt werden, zu engagieren», (Mitglied der influBenzer). Bei der Telekom wird in manchen Konzernbereichen ein 80/20-Modell angeboten, bei dem bis zu 20 Prozent der Arbeitszeit für Fachfremdes (z. B. für die Telekom Botschafter-Aktivitäten und Aktionen) genutzt werden kann.

Steckbriefe

Name: Telefon Botschafter (https://telekom.com/botschafter)
Entstehung: Die Community der Telekom Botschafter wurde 2015 als Grassroot-Bewegung (#Werkstolz) durch die Einzelinitiative eines Kollegen initiiert, der aus eigener Motivation heraus im Social Intranet einen Aufruf startete. Aufgrund dieses Aufrufs fanden sich die ersten Interessierten, aus deren Kreis sich das heutige Kernteam geformt hat. Aus diesem Kern entstand ein selbstorganisiertes Menschen-Netzwerk innerhalb des Konzerns, das sich selbst die Mission gegeben hat, dem Unternehmen ein persönliches Gesicht zu geben und Kund:innen und Kolleg:innen mit magenta Werkstolz zu begeistern. Aktuell besteht die Community aus ca. 200 aktiven Botschafter:innen aus allen möglichen Konzernbereichen und vielen Regionen der Erde.
Mission: «Wir als TELEKOM BOTSCHAFTER begeistern mit magenta Werkstolz unsere Kunden und Kollegen. Wir helfen, motivieren und geben der Telekom ein persönliches Gesicht.» ➤ Neugier, Leidenschaft und Begeisterung für die eigene Arbeit und den Arbeitgeber in sozialen Medien, im privaten Umfeld sowie im Arbeitsumfeld teilen. + «Ich bin die Telekom, auf mich ist Verlass»
Struktur: Ca. 200 aktive Botschafter*innen + Kernteam mit 20 Botschafter*innen, die besondere organisatorische Rollen übernommen haben
Organisation: TELEKOM BOTSCHAFTER-Seite im Social Intranet You and Me als Zentraler «Treffpunkt»; wöchentliche Meetings (Webex-Calls) für alle Telekom Botschafter*innen, für das Kernteam und für Sonderprojekte; zwei bis drei persönliche Treffen pro Jahr

Name: InfluBenzer
Entstehung: Die Idee zur Gründung eines Botschafternetzwerks ist 2019 im Rahmen einer Reverse Mentoring Session entstanden. Der Begriff #influBenzer wurde über einen Namenswettbewerb im Social Intranet gefunden und begleitet seitdem die Initiative.
Mission: «InfluBenzer begeistern Menschen im Unternehmen und außerhalb. Wir sind stolz auf unsere Herkunft (#weilwirMercedessind) und unsere Zukunftsfähigkeit. In der laufenden Transformation des Unternehmens unterstützen wir aktiv mit unserer ganzen Kraft und Erfahrung nach innen als Vorbilder die Veränderung. Mit dieser Leidenschaft geben die influBenzer neben den großartigen Produkten dem Unternehmen viele menschliche Gesichter.»
Struktur: Ca. 150 Follower im Social Intranet, Kernteam um Schwerpunkte und Themen abzustimmen
Organisation: Aktive Community im Social Intranet als zentraler Treffpunkt, unregelmäßige Calls Themenbezogen, Treffen auf internen Veranstaltungen wie z. B. dem Digital Life Day 2019

Wirkung von Botschafternetzwerken

Botschafternetzwerke schaffen innerhalb der Organisation eine emotionale Verbundenheit («Mittlerweile habe ich keine Kollegen mehr in dem Botschafterkreis. Ich habe Freunde», Mitglied der Telekom Botschafter) und beflügeln Sichtbarkeit und Integration: «Durch das Netzwerk verändert sich die Sichtweise auf das Unternehmen – dass dahinter Menschen stehen. Und dass Menschen wahrgenommen werden, die vorher gar nicht aufgetaucht sind», (Mitglied der influBenzer). Die Botschafter*innen verstehen sich selbst als gemeinsam agierende Organisationsentwickler*innen, die «mit guten Erfahrungswerten vorausgehen und eine Leuchtturmwirkung innerhalb des Konzerns einnehmen (…)» (Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder engagieren sich überwiegend in ihrer Freizeit und organisieren sich über Unternehmensbereiche und Hierarchiegrenzen hinweg. Dadurch tragen sie implizit zur Enthierarchisierung in Unternehmen bei. Denn das Netzwerk vermittelt ein Gefühl der Verbundenheit und Gleichheit, das die Mitarbeiternden dazu motiviert, sich innerhalb der Organisation persönlich zu entfalten und einzubringen. Die Community-Mitglieder tauschen sich nicht nur in ihren Funktionen und Rollen aus, sondern verfolgen als Menschen ein gemeinsames Ziel. Botschafter*innen wirken insbesondere auch nach außen und erschaffen dabei neue und überraschende Perspektiven auf das Unternehmen. So resümiert ein Studierender der Europa-Universität Flensburg (EUF) nach den Interviews: «Großkonzerne wirken auf junge Hochschulabsolventen oft sehr alt und eingestaubt. Die dynamischen und motivierten Botschafter polieren das Image auf und lassen den Konzern moderner wirken.» Ein anderer stellt fest: «Ich finde es sehr beeindruckend, wie schnell die Motivation von wenigen Personen ‘anstecken’ kann.» Die unerwarteten Erkenntnisse zeigen der nächsten Generation von Manager*innen bislang ungeahnte Möglichkeiten auf: «Ich hatte zunächst erwartet, dass es sich um Menschen handelt, die ihrem Leben durch die starke Identifikation mit ihrem Arbeitgeber und deren öffentlicher Repräsentation mehr Sinn geben wollen. Allerdings hat sich die Annahme in beiden Unternehmen als komplett falsch erwiesen. Ich finde das Thema dadurch sogar für mich interessant, um auch selbst daran mitzuwirken, große Konzerne agil zu halten.» Auf die Studierenden wirkten die Netzwerke durchaus unterschiedlich. Während die Telekom Botschafter verstärkt nach außen wirken möchten und ihre Sichtbarkeit fokussieren, zielen die influBenzer auf interne Veränderungsprozesse ab. In den Interviews und in der Ergebnisdiskussion mit dem Netzwerk vermittelten die influBenzer zum einen, «dass sie stolz sind auf das, was sie tun, zum anderen wirkten sie aber auch sehr viel kritischer und vorsichtiger als ihr magenta-farbenes Pendant» (Studentin der EUF). Insgesamt ist die transformative Wirkung und Reichweite von Botschafternetzwerken nicht zu unterschätzen. Insbesondere die Telekom Botschafter sind weit über die Unternehmensgrenzen bekannt und inspirieren andere Unternehmen, ähnliche Initiativen zu starten. Die wachsende Anzahl an Botschafternetzwerken wird deren Bedeutsamkeit für die Unternehmenswelt zukünftig noch weiter steigern.

Begünstigende Faktoren für die Unternehmenspraxis

Es gibt kein Kochrezept für den Aufbau und die Entwicklung eines Botschafternetzwerks, da jedes Unternehmen seine individuellen Subkulturen mit sich bringt. Rückblickend empfehlen wir, nicht mit einem Meilensteinplan zu starten, sondern Schritt für Schritt vorzugehen: Zunächst eine Keimzelle («die Vortänzer») für das Netzwerk ausmachen und diese dann ansprechen, begeistern und letztlich für die Idee gewinnen. Als ideale Plattform – und später als Sprachrohr für das Netzwerk – eignet sich das Social Intranet des Unternehmens. Es geht darum, Menschen zusammenzuführen und ungezwungen in den Austausch miteinander zu bringen. Da Vielfalt die Grundlage für ein lebendiges und innovatives Netzwerk darstellt, sollte darauf beim Netzwerkaufbau besonderer Wert gelegt werden. Mit der richtigen Botschaft («Es ist völlig egal wo ihr herkommt, lasst uns darüber reden, wo wir gemeinsam hinwollen») ergibt sich quasi von allein ein buntes Netzwerk – wie bei den Telekom Botschaftern. Auch bei den influBenzern wird Diversität als Erfolgsfaktor gesehen. Unterrepräsentierte Bereiche sollten stärker in das Netzwerk integriert werden, indem ihnen Möglichkeiten angeboten werden, sich einzubringen. Dabei geht es nicht um «Wachstum um jeden Preis», sondern darum, Mitstreiter zu finden, die Verantwortung und konkrete Aufgaben übernehmen. In den Interviews zeigte sich mitunter, dass eine strenge Unternehmenskultur, die auf Richtlinien beruht, hemmend auf die Botschafteraktivitäten wirkt. Wenn Mitarbeitende Angst davor haben, etwas falsch zu machen, scheuen sie vor internen und insbesondere externen Botschaften zurück.

Essentiell für die Wirksamkeit und den Fortbestand eines Botschafternetzwerks ist die Duldung durch die Unternehmensführung und die Unternehmenskommunikation. Diese Funktionsbereiche fürchten mitunter einen «Wildwuchs» des Netzwerks und damit Kontrollverlust. Botschafternetzwerke streben hingegen nach Unabhängigkeit und möchten nicht als Marketinginstrument fremdgesteuert werden. Hier hilft gegenseitiges Vertrauen, regelmäßiger Austausch mit der Unternehmenskommunikation zu aktuellen Themen des Unternehmens und der Branche sowie wiederkehrende Reflexionsphasen. In diesen beleuchten die Botschafter*innen gemeinsam, wo das Netzwerk steht und welche Positionen es bezieht angesichts dynamischer wirtschaftlicher und betrieblicher Veränderungen (Mitglied der Telekom Botschafter: «Nach jedem ‘Big Bang’ sortieren wir uns neu»).

Fazit

Netzwerke wie die Telekom Botschafter erfahren aktuell viel Aufmerksamkeit und gelten als Vorbilder für andere Gruppen von Corporate Influencern. Als Graswurzelbewegungen stellen Botschafternetzwerke eine bunte Spielwiese für Organisationen dar und haben das Potenzial, Unternehmen aus der Mitte heraus zu verändern (vgl. auch Kluge & Kluge, 2020). Die Netzwerke entwickeln sich dynamisch weiter, immer wieder entstehen Sub-Netzwerke, wie etwa die Corporate Rebels oder der Sustainability Club bei Daimler (der Oberbegriff influBenzer steht hier für alle Initiativen und Bewegungen zusammen). Die Mitglieder der betrachteten Netzwerke werden als authentisch wahrgenommen, da es sich typischerweise um Mitarbeitende ohne offiziellen Auftrag und professionellen Social-Media-Hintergrund handelt. Die Netzwerke widmen sich in ihrer Arbeit nicht nur personalbezogenen Fragestellungen. Die influBenzer zielen bspw. auf einen vermehrten internen Diskurs ab – über komplexe Themen wie Zukunftsgestaltung – und Markenidentität und möchten Transformation und Strukturwandel in Unternehmen aktiv mitgestalten. Ihre Aktivitäten sind daher stark nach innen gerichtet.

In Botschafternetzwerken steckt hohes Innovationspotenzial für Unternehmen, denn hier versammeln sich sehr motivierte Mitarbeitende aus sämtlichen Unternehmens- und Funktionsbereichen, die sich durch große Offenheit und eine starke emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber auszeichnen. Sie fühlen sich nicht nur dem Image, sondern auch der Weiterentwicklung des Unternehmens verpflichtet und bringen selbstinitiiert und -organisiert Impulse für die Organisationsentwicklung hervor. Anders als formal verankerte Bestandteile der betrieblichen Aufbau- und Ablauforganisation fokussieren Botschafternetzwerke in Form einer informellen Community und damit als eine neue dritte und wichtige Säule des Organisationsgefüges, nicht eine mandatierte Vertretung von Beschäftigten des Unternehmens oder von Interessensgruppen, die für festgelegte Themen wie die Arbeitsbedingungen innerhalb des Unternehmens stehen, sondern die Wirkung des Unternehmens nach innen (Kolleg*innen helfen und motivieren, Employee Experience & Engagement) sowie nach außen (Kund*innen helfen und gewinnen, Customer Experience) und dem Unternehmen ein persönliches Gesicht geben (Employer Branding). Wir glauben, dass neben der Aufbauorganisation (Linienstruktur) und der Ablauforganisation (Projekte) die selbstgesteuert entstehenden Netzwerke (Communities) – als dritte Säule der Zusammenarbeit – einen wesentlichen Anteil zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Eine Stärkung und Anerkennung von vernetztem Arbeiten fördern Lösungen im VUCA-Umfeld, in dem sich aktuell viele organisationale Aufgaben bewegen. Die transformative Wirkung von Botschafternetzwerken beschränkt sich nicht auf die Kultur der Zusammenarbeit, sondern berührt auch die Führungskultur. Das Konzept «Servant Leadership» kann dabei von einer wörtlich dienenden zu einer feiernden Führungshaltung überleiten. Führungskräfte werden zu Fans ihrer Mitarbeitenden und geben ihnen Kraft zur Selbstentfaltung – innerhalb wie außerhalb der Unternehmensgrenzen.

«Botschafternetzwerke tragen implizit zur Enthierarchisierung in Unternehmen bei.»

Geben Sie ihren Mitarbeiter*innen den Raum zu wachsen, dann entwickeln sich eigenständig handelnde und wirkungsvolle Botschafternetzwerke. Auch wenn Sie hilfreiche interne Fürsprecher und Stakeholder finden; das Gefühl und die Freiheit der Graswurzel-Bewegung und damit der «kleinen Revolution » muss spürbar bleiben, sonst verliert die Initiative an Attraktivität und Charme. Berichten Sie über Ihre ersten und nächsten Schritte und über Ihre Learnings so frühzeitig wie möglich – sowohl innerhalb des Unternehmens als auch öffentlich und transparent; sowohl über die digitalen Medien, als auch im Rahmen von Konferenzen, Events und Afterwork-Veranstaltungen. Darüber knüpfen Sie Kontakte zu anderen Unternehmen und Branchen und können Erfahrungen austauschen. Konkurrenz belebt zwar das Geschäft und treibt Innovation, Kooperation lässt es hingegen gemeinsam nachhaltig wachsen.

Dr. Tanja Reimer
Direktorin am Jackstädt-Zentrum Flensburg der Europa-Universität Flensburg, Forschung & Lehre zu Organisationsentwicklung und Innovation

Markus Heidenreich
People Lead & Corporate Ambassador, Deutsche Telekom IT GmbH (Deutsche Telekom AG)

Oliver Herbert
Manager Projekte Batterien, Mercedes-Benz AG

Literatur

• Ebner, W. (2020). Telekom Botschafter: Die Corporate Influencer-Initiative stellt sich vor. https://zoe.ch/telekom-botschafter
• Herbert, O. (2019). Geschichtenerzähler suchen einen Namen – die #InfluBenzer Initiative bei Daimler. https://zoe.ch/influbenzer-daimler
• Kluge, S. & Kluge, A. (2020). Graswurzelinitiativen in Unternehmen – Ohne Auftrag mit Erfolg! Vahlen.
• Sturmer, M. (2020). Corporate Influencer – Mitarbeiter als Markenbotschafter. Springer Gabler.


Wir haben keinen Spielraum mehr für Fehler

Im Gespräch mit Thomas Evans (CNN)

Journalismus ist in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten und kämpft in Zeiten von sozialen Medien und Fakten-Check um seine Bedeutung. Ich habe mit dem erfahrenen Journalisten und Leiter des CNN-Büros London, Thomas Evans, über Mut im kleinen Handeln und überzogenen Übermut in der Selbstdarstellung gesprochen.

ZOE: Würden Sie sich selbst als mutig bezeichnen?

Evans: Ich wünschte ich wäre es, aber nein. Denke ich, dass ich manchmal mutig gehandelt habe? Ja.

ZOE: Welche Bedeutung hatte Mut bisher für Sie als Journalist?

Evans: Ein großer Teil meiner Karriere fand in Konfliktländern statt, in feindlichen und gefährlichen Situationen oder nach Naturkatastrophen. Ich habe beispielsweise viele Jahre im Irak verbracht, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, Ägypten während des Arabischen Frühlings, Hurricane Katrina, 9/11 … Ich denke, in diesen Kontexten zu arbeiten erfordert durchaus Mut. Ich verstehe Mut als Angstmanagement. Mutig zu handeln bedeutet nicht, ohne Angst zu handeln, sondern seine Angst zu verstehen und in der Lage zu sein, sie zu kontrollieren. In einer feindlichen Umgebung ist die Angst dein bester Freund, sie ist ein Sicherheitsmechanismus, sie hält dich am Leben. Es geht darum, seine Angst zu kontrollieren und sie zu seinem Vorteil zu nutzen, anstatt von ihr beherrscht und gelähmt zu werden.

ZOE: Müssen Journalist*innen heutzutage mutig sein?

Evans: Ich denke, wirklichen Mut im Journalismus braucht es in den Grauzonen, also in den Situationen, in denen es nicht zwangsläufig um Leben und Tod geht. Stattdessen ist mutiges Handeln gefragt, wenn ein persönliches berufliches Risiko auf dem Spiel steht. In einem Nachrichten-Unternehmen wie CNN gibt es keinen Spielraum für Fehler mehr. Wenn wir bei CNN in einer Welt der Fake News einen Fehler machen, wird das zu einer Story und wir werden verleumdet. Wir können nicht einfach sagen: Huch, da lagen wir daneben. Niemand würde uns das glauben. Es erfordert also manchmal eine Menge Mut, als Journalist heute einfach nur seinen Job zu machen. Die Auswirkungen sind in dieser Umgebung derart gravierend geworden.

ZOE: War das schon immer so?

Evans: Hätten Sie mir dieselben Fragen vor zehn Jahren gestellt, hätten wir uns viel mehr auf den Mut in der Kriegsberichterstattung konzentriert, ein Wort, was ich übrigens nicht mag. Aber vor einigen Jahren waren das noch die offensichtlichen Situationen, in denen es Mut als Journalist bedurfte. Jetzt ist der wahre Mut unser Tagesgeschäft. Die Beschimpfungen, mit denen einige meiner weiblichen Kolleginnen online konfrontiert werden, machen mich sprachlos. Trotzdem lassen sie sich davon nicht entmutigen und leisten fantastische Arbeit. Ich denke, das erfordert echten Mut. Der Mut, den man in dieser Branche heute braucht, hat nichts mit Kriegsgebieten zu tun.

ZOE: Wie wirkt es sich aus, in einem so feindseligen, möglicherweise entmutigenden Umfeld zu arbeiten?

Evans: Ich habe das Gefühl, und ich denke, einige meiner Freund*innen und Kolleg*innen würden mir zustimmen, dass vor allem die letzten vier Jahre, in denen CNN und Journalist*innen im Allgemeinen als Feind des Volkes dargestellt wurden, sehr herausfordernd waren. Im Journalismus brennen viele Leute aus. Es ist wirklich ermüdend und anstrengend. Die meisten Jobs sind rund um die Uhr besetzt, was hart sein kann. Viele halten nicht sehr lange durch. Auch ich habe in meiner Karriere Zeiten erlebt, in denen mir der Sprit ausging.

Für mich persönlich haben die letzten vier Jahre aber dazu geführt, dass ich wiedererkannt habe, was mir an einem Beruf wichtig ist und warum ich ihn ausübe. Ich habe das Gefühl wiederentdeckt, warum das, was wir als Journalist*innen machen, einen Wert hat. Schauen Sie, über Konflikte zu berichten ist einfach, weil man ganz genau weiß, was man tut. Man weiß, warum man dort ist und worum es geht. Die Stories und Nachrichten fliegen dir quasi zu. Das Drama, die Gefahren, all das kommt direkt zu dir. All die Diskreditierungen von journalistischer Arbeit in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass viele Journalist*innen aufgestanden sind und gesagt haben: Wir sind hier, um die Wahrheit zu sagen. Es mag Ihnen nicht gefallen, was wir sagen, aber das macht es nicht weniger wahr.

ZOE: Journalist*innen stehen ja nicht selten selber gerne im Rampenlicht. Vielleicht besteht eine Form des mutigen Handelns ja auch darin, sich mehr zurück zu nehmen?

Evans: In der Tat ist es vielleicht mutiger, jemand anderem zu erlauben, zu glänzen. Ich denke, zumindest für mich besteht ein großer Teil meiner Arbeit darin, die eigenen Interessen zurückzustellen. Manchmal kann man sich selbst mit Ruhm bedecken, aber das muss nicht das Beste für die Geschichte oder das Beste für das Unternehmen oder das Team und die Kolleg*innen sein. Deshalb ja: Die Fähigkeit und das Selbstbewusstsein, sich nicht immer nur um sich selbst zu drehen, ist als Journalist ebenfalls mutig. Und ehrlich gesagt ist das leichter gesagt als getan. Der Journalismus ist eine Branche, in der es viele Egos
gibt und viele Leute, die Schwierigkeiten damit hätten, wenn sich die Geschichte nicht um sie dreht. Das kontinuierliche Reflektieren der eigenen Person und Rolle ist daher zutiefst wichtig.

ZOE: Hat Mut auch eine dunkle Seite?

Evans: Ich habe hierüber bisher noch nicht wirklich nachgedacht, aber ich denke Sie haben da einen Punkt. Jemand wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump handelt ohne Angst vor den Konsequenzen seines Handelns. Das erfordert auch ein gewisses Maß an Mut. Das muss aber nicht gut sein. Mut ist per se nicht gut oder schlecht, sondern neutral. Mut kann eine sehr kraftvolle Art sein, sich zum Guten zu verhalten. Ohne ein Laienpsychologe sein zu wollen, aber wenn man Mut mit soziopathischen und narzisstischen Persönlichkeiten kombiniert, kann das sehr gefährlich werden. (lacht)

ZOE: Hat Sie der Mut jemals im Stich gelassen?

Evans: Ja. Ich denke, wahrscheinlich mehr in meinem Privatleben als im Beruf. Ich glaube nicht, dass ich ein besonders mutiges Kind war. Das hat mir aber geholfen, ein mutigerer Erwachsener zu sein, denn ich habe erkannt, dass man einige Misserfolge haben muss, um zu erkennen, dass man Risiken eingehen kann. Beruflich gab es definitiv Zeiten, in denen ich mir wünschte, ich hätte mich stärker für eine Geschichte eingesetzt, und ich habe nicht auf mein Bauchgefühl vertraut. Das waren Situationen, in denen ich nicht so mutig war, wie ich mir selber erhofft hatte. Das Lustige an Mut ist, je mehr er gefordert ist, desto einfacher ist es, danach zu handeln. Es sind die kleinen Dinge, die ich wirklich schwierig finde. Die, bei denen man sich nicht wirklich sicher ist.

Einmal hatte ich ein Interview mit einem Massenmörder geplant. Ich wusste, dass er dem Interview zugestimmt hatte, weil er es als eine Plattform für sich und seine Botschaften nutzen wollte. Es gab eine Menge Leute bei CNN, die meinten, wir sollten es deshalb nicht führen. Wir sollten ihm diese Bühne nicht geben. Meine Meinung war: wir kontrollieren das Interview und wir müssen es letztlich ja nicht ausstrahlen. Zweitens: Ich glaube, wir sind schlauer als er. Und nicht zuletzt bin ich persönlich bereit, dieses Risiko einzugehen. Aber es gab eine Menge Argumente dagegen. Am Ende habe ich nachgegeben und wir haben es nicht gemacht. Ich weiß noch, wie frustriert ich war, dass ich es nicht durchziehen konnte. Schließlich gab ich auf, weil es einfach zu hart war, weiter dagegen anzukämpfen.

ZOE: Kann man Mut lernen?

Evans: Sich zu sagen: «Ich werde jetzt mutiger sein», wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Wenn du dich aber fragst: Warum hat mir diese Situation Angst gemacht, warum habe ich gezögert? Was war das tatsächliche Risiko? Hätte ich in dieser Situation tatsächlich mehr Risiko eingehen sollen? Wenn du dir diese und andere Fragen stellst, dann lernst du, wie du mit deiner Angst und deiner Risikotoleranz umgehen kannst. Das ist ein ganz natürlicher Lernprozess, wenn man ihn so gestaltet.

Im Grunde ist es wie bei allen menschlichen Verhaltensweisen: Wenn man etwas zum ersten Mal tut und es erfolgreich ist und funktioniert, wiederholt man es, und nach und nach fällt es einem immer leichter. Es fühlt sich gut an und dann will man es wieder fühlen und so baut sich nach und nach ein entsprechendes Verhalten auf – auch Mut.

ZOE: Gibt es jemanden, der für Sie Mut verkörpert?

Evans: Ich erinnere mich an einen meiner Kollegen im Irak, der ein absolut chaotisches Privatleben hatte. Er trank zu viel und hatte so einige Probleme. Beruflich jedoch, rein journalistisch gesehen, war er hoch professionell und engagiert. Er strotzte nur so vor Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten als Journalist. Er hat sich in die Geschichten, die er schrieb, reingedreht und wir alle haben uns gefragt, was er da eigentlich macht. Aber er hatte Vertrauen in sich und zog es durch. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, bei dem er am Ende mit seinen Geschichten nicht Recht behalten hätte. Und das waren nicht irgendwelche
Geschichten, die er produzierte. Seine Arbeiten wurden z. B. auf Pressekonferenzen mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush angesprochen und der Präsident musste dazu Stellung beziehen. Dabei hat man auch versucht, seine Arbeit zu widerlegen bzw. als falsch darzustellen. Aber das hat nicht funktioniert, denn er hat nicht nachgegeben. Und er hatte mit all seinen Beiträgen Recht. Obwohl der Rest seines Lebens eine absolute Katastrophe war, hatte er eine erstaunliche Arbeitsmoral. Wenn ich also an professionellen Mut als Journalist denke, dann war er definitiv ein Beispiel dafür.

Das Gespräch führte ZOE-Redakteur Oliver Haas.


Raus aus der Komfortzone

Sozialer Mut als Wettbewerbsvorteil

Wenn man mutige Organisationen möchte, sollte man zunächst bei sich selbst anfangen. Wie einem das gelingt und wie man Andere systematisch ermutigen kann, zeigt dieser Beitrag.

Mit der Forderung nach Ermutigung rennt man im Management offene Türen ein: Ja, Mut ist ganz wichtig, gerade in der heutigen Zeit! Von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften würde man sich wirklich mehr Mut wünschen – und von der Politik auch. Generell müssten die Deutschen mehr Mut zu Veränderungen aufbringen, statt ängstlich am Status quo zu kleben…

Man könnte das auch nennen: Plappernd am Kern der Sache vorbeischwätzen. Paradoxerweise macht es gerade diese voreilige Begeisterung schwierig, mit Sorgfalt und Tiefe über Mut zu reden.

Perfekt ins Bild passt da, dass die begeisterte Zustimmung absolut folgenlos bleibt: Wenn ihnen Mut tatsächlich so wichtig ist, weshalb entwickeln die Verantwortlichen dann eigentlich keine Strategien und Programme, um den so schmerzlich vermissten Mut zu fördern? Warum erforschen sie nicht die Gründe der Mutlosigkeit? Warum ignorieren sie mögliche Zusammenhänge mit der bestehenden Unternehmens- und Führungskultur?

Welche Art von Mut wollen wir?

Wer sich von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften mehr Mut wünscht, muss zunächst einmal klären, was genau er eigentlich erreichen will: Möchte er tatsächlich, dass seine Adressaten künftig Risiken eingehen, mit denen sie sich, andere und/oder die Firma in Gefahr bringen? Vermutlich nicht. Aber was ist dann das Ziel?

Mut ist zunächst einmal wertfrei. Einen Einbruch zu begehen oder seine ersten Karriereschritte als Trickbetrüger zu machen, erfordert auch Mut. Doch das sind schädliche, destruktive Formen von Mut, gegen andere Menschen und gegen die Gemeinschaft gerichtet. Solch anti-sozialer Mut ist weder anstrebenswert noch förderungswürdig. Was sowohl Teams und Organisationen als auch die Gesellschaft insgesamt brauchen, ist mehr pro-sozialer Mut, also einer, der zur eigenen Weiterentwicklung und/oder der Gemeinschaft beiträgt.

Das tut Mut vor allem in zwei Fällen: Zum einen dann, wenn sich Menschen persönlich entwickeln, indem sie ihre bisherigen Grenzen überwinden, sich an neue Herausforderungen wagen und dabei neue Erkenntnisse und Fähigkeiten erwerben; zum anderen dann, wenn sie ihren bestmöglichen Beitrag zu übergeordneten Zielen leisten. Also etwa, wenn sie beherzt und ohne Rücksicht auf soziale Erwünschtheit ihre Meinung vertreten, statt sich bedeckt zu halten oder anderen nach dem Mund zu reden. Es geht um Mut in Alltagssituationen, in denen keinerlei physische Gefahr droht. Eine schwierige Aufgabe zu übernehmen zum Beispiel oder sich gegen den Konsens im Team zu stellen, ist mit keiner körperlichen Bedrohung verbunden. Es birgt jedoch emotionale und soziale Risiken. Wer sich aus seiner Komfortzone wagt und sich an neuen Aufgaben versucht, riskiert zu scheitern. Wer ein heikles Thema anspricht, kann sich unbeliebt machen und verbale Prügel bekommen. Er läuft Gefahr, angegriffen zu werden, möglicherweise ganz alleine dazustehen, sich nicht durchsetzen zu können, im schlimmsten Fall ausgegrenzt zu werden. Wer unorthodoxe Vorschläge macht, kann abgebürstet oder ausgelacht werden.

Weiterentwicklung der Einzelnen und/oder der Gemeinschaft

Mut hat dann den größten Nutzen, wenn er die Einzelnen und/oder die Gemeinschaft weiterbringt – idealerweise beides. Beim Eingehen physischer Risiken ist das in aller Regel nicht der Fall: Unsere Herausforderungen liegen nur noch selten darin, Räuber oder wilde Tiere abzuwehren. Damit sich ein Team oder eine Firma weiterentwickelt, ist der Mut erforderlich, das warme Nest des allgemeinen Konsenses zu verlassen und Stellung zu beziehen. Irgendwer muss dafür das Wagnis eingehen, sich lächerlich oder unbeliebt zu machen. Dieser soziale Mut bringt uns auch als Individuen voran, hilft uns, unsere Potenziale auszuschöpfen und unsere Ängste zu reduzieren. Denn Angst wird man nicht los, indem man vor ihr wegläuft – Angst wird man los, indem man ihr entgegen geht.

Sozialer Mut hat das Potenzial zum strategischen Wettbewerbsvorteil – für den Einzelnen wie für Unternehmen und Non-Profit-Organisationen. Wer als Individuum mutig agiert, wird bei ansonsten gleichen Fähigkeiten mehr erreichen als jemand, der seiner Angst nachgibt, und sich damit auf die Dauer auch ein höheres Ansehen erwerben und bessere Karrierechancen haben.

Mutige Teams und mutige Unternehmen machen mehr aus ihren Ressourcen. Sie entfalten einen höheren «Wirkungsgrad», also letztlich eine höhere Produktivität. So erzielte ein Bankvertrieb einen wachsenden Pro-Kopf-Umsatz und -Ertrag, nachdem dort systematisch auf eine ermutigende Führungskultur hingearbeitet wurde. Erreicht wurde das hauptsächlich dadurch, dass die Mitarbeitenden ihr Geschäft mit «schwierigen», sprich besonders kritischen Kund*innen ausbauten, um die viele bisher einen Bogen gemacht hatten – genau wie die meisten Wettbewerber.

In ähnlicher Weise ist eine mutige Fertigung produktiver und erzeugt eine höhere Qualität, einfach weil Ineffizienzen wie Fehlerquellen früher beim Namen genannt und beseitigt werden. Das Band anzuhalten, wenn man entdeckt hat, dass ein Produkt fehlerhaft ist, erfordert die Übernahme von Verantwortung – risikoloser ist, die Augen zuzumachen und das fehlerhafte Teil vorbeilaufen zu lassen. Ebenso erfordert es Mut, einen fehleranfälligen Prozess zum Thema zu machen – oder seine Vorgesetzten darauf hinzuweisen, dass in ihrem Bereich nicht alles optimal läuft.

Selbst mutiger werden

Was kann man tun, um sein Team oder seine Firma in Richtung mehr Mut zu bewegen? Ein guter Anfang ist, mit sich selbst zu beginnen. Von heroischen Aufbrüchen ist dabei abzuraten: Der Ansatz «Ab morgen fürchte ich mich vor nichts und niemandem mehr» ist kaum durchzuhalten und kann zu Rückschlägen führen, von denen man sich nicht so leicht erholt. Erfolgversprechender ist, jeden Tag ein kleines bisschen mutiger zu werden. Das gelingt am besten in Situationen, die auf der Kippe stehen, bei denen man also schwankt, ob man etwas sagen soll oder nicht. Dort wäre es ein guter Anfang, im Zweifelsfall Stellung zu beziehen, statt den Mund zu halten.

Das ist nicht so spektakulär wie heroische Aufbrüche, hat aber eine längere Halbwertszeit. Und es summiert sich: Jeden Tag ein kleiner Schritt – oder jeden zweiten, weil man manchmal etwas Zeit braucht, um sich von der eigenen Tapferkeit zu erholen –, so kommt im Laufe der Zeit eine ordentliche Strecke zusammen.

Wichtig ist, dabei realistische Erwartungen zu haben. Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass eine mutige Intervention immer etwas Positives bewirkt. Noch unrealistischer wäre, auf allgemeine Begeisterung zu hoffen. Denn mutigeres Handeln wird in vielen Fällen wenigstens einigen der Beteiligten ungelegen kommen; entsprechend fängt man sich zuweilen harsche und abwehrende Reaktionen ein. Trotzdem ist es im Interesse der Sache zuweilen sinnvoll, der «Spielverderber» zu sein, der sich dem Harmonie-Konsens verweigert und auf weiterem Nachdenken beharrt.

Der richtige Maßstab für mutiges Handeln

Wer mutiges Handeln daran misst, ob es möglichst unmittelbar zum Erfolg und zu allgemeiner Zustimmung führt, entmutigt sich selbst. Realistischer ist, darauf zu setzen, dass mutiges Handeln die Situation zwar im Durchschnitt verbessert, aber nicht in jedem Einzelfall, und auch nicht immer sofort.

Der einzige sinnvolle und vor allem der einzig praktikable Maßstab ist, ob wir in einer gegebenen Situation unseren bestmöglichen Beitrag zur gemeinsamen Sache geleistet haben bzw. leisten. Denn ob es etwas bewirken wird und wie die anderen reagieren werden, können wir im Voraus nie sicher wissen. Deshalb bringt es auch nichts, darüber zu grübeln. Ebenso wenig sinnvoll ist es, das tatsächliche Ergebnis zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Denn erstens haben wir das nicht allein in der Hand, und zweitens ist das ein Expost-Maßstab, der uns im Vorfeld nichts hilft.

«I think our number one problem is that nobody wants to take responsibility for anything. But don’t quote me on that.»

Anonymer Manager

Deshalb ist hier der «Mut zur Unvollkommenheit» gefragt, den die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld (1881 – 1976) schon vor fast 100 Jahren gefordert hat: Oft müssen wir handeln, ohne im Voraus zu wissen, ob es richtig ist, wie die anderen reagieren werden und wozu es führen wird. Und dabei stehen wir jedes Mal vor der Wahl, entweder in der sicheren Deckung zu bleiben oder mutig zu sein und ins (soziale) Risiko zu gehen. Aus der Perspektive dessen, was die Individualpsychologie Gemeinschaftsgefühl nennt, ist das einzig relevante Kriterium für unser Handeln: Leisten wir nach unserer eigenen Überzeugung, also «nach bestem Wissen und Gewissen», unseren bestmöglichen Beitrag zu einer positiven Entwicklung? Das kann natürlich immer nur aus der Einschätzung der Situation heraus geschehen, die wir vor unserer Intervention hatten – nicht aus späteren Erkenntnissen und Einsichten oder dem Ergebnis, das schließlich eingetreten ist. Im Nachhinein ist man zuweilen klüger, doch es lähmt nur – sprich: es entmutigt –, sich davon beirren zu lassen. Sicher ist: In der Deckung zu bleiben, ist nur sehr selten der bestmögliche Beitrag.

Das hat eine wichtige Konsequenz: Wir sollten uns eine mutige, konstruktive Intervention auch dann als richtige Entscheidung anrechnen, wenn sie nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Wir haben dann nicht bewirkt, was wir bewirken wollten, aber wir haben «mutig und unvollkommen», wie Theo Schoenaker es formuliert hat, unser Bestes getan. Wenn wir unseren bestmöglichen Beitrag nicht als richtige Entscheidung verbuchen, was sollten wir dann als richtige Entscheidung verbuchen?

Andere systematisch(er) ermutigen

Doch so gut es ist, selbst mutiger zu werden, davon wird nicht automatisch auch unser Team mutiger und schon gar nicht die ganze Firma. Zusätzlich sollten wir lernen, unsere Umgebung systematisch zu ermutigen, und eine ermutigende Kultur aufbauen. Mit anderen Worten, wir sollten Ermutigung nicht nur zu einem zentralen Prinzip unseres eigenen Handelns machen, sondern zur Leitlinie der ganzen Organisation.

Aber wie ermutigt man seine soziale Umgebung? Wie kann man Ermutigung lernen? Der beste Einstieg ist, sich bewusst zu machen, dass Sie hier keineswegs bei null anfangen: Wir alle sind ständig dabei, unsere Umgebung teils zu ermutigen, teils zu entmutigen – nur, dass wir dies in aller Regel nicht bewusst und planmäßig tun, sondern inhaltsgetrieben, sprich, als spontane Reaktion darauf, was uns gefällt oder missfällt.

Wenn wir von einem Vorschlag spontan sehr angetan sind und dies verbal und/oder nonverbal zum Ausdruck bringen, hat das genauso seine Wirkung auf diejenige, die ihn gemacht hat, wie wenn wir eine Idee als Schwachsinn bezeichnen und brüsk vom Tisch wischen. Das Gleiche gilt, wenn wir bei einem Redebeitrag mehrfach den Kopf schütteln oder zustimmend nicken, wenn wir konzentriert zuhören oder uns parallel mit unserem Smartphone beschäftigen.

«Nur was Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch.»

Die Wirkung unserer Signale verstärkt sich ohne unser Zutun, wenn wir für die Adressaten wichtig sind, gleich ob aus beruflichen oder persönlichen Gründen. Hierarchische Über- bzw. Unterordnung spielt dabei eine größere Rolle als den meisten Führungskräften bewusst ist: Vor allem entmutigende Signale haben ungleich höheres Gewicht, wenn sie von Hierarchie-Höheren kommen. Persönliche Dominanz verstärkt den Effekt.

Die eigenen Gewohnheiten systematisch erforschen

Bevor Sie also darüber nachdenken, welche neuen Techniken und Methoden der Ermutigung Sie sich aneignen sollten, empfiehlt es sich, systematisch zu erforschen, wie und wodurch Sie bereits heute ermutigend bzw. entmutigend wirken. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Quellen: Erstens Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, zweitens das Feedback der Umgebung.

Selbstbeobachtung und Selbstreflexion sind der Anfang. Halten Sie am besten nach jedem Gespräch, bei längeren Gesprächen auch mal zwischendurch, kurz inne und fragen sich: Wie ermutigend oder entmutigend war oder bin ich eigentlich gerade? Welche Reaktionen meiner Gesprächspartner habe ich beobachtet – und sprechen die dafür, dass sie sich von mir ermutigt fühlen oder eher das Gegenteil? Dabei werden Sie vermutlich nicht alles sehen, aber es wird Ihnen schon einiges auffallen. Das schult Ihre Selbstwahrnehmung. Und wenn Sie die eine oder andere Ihrer Reaktionen im Nachhinein nicht ganz glücklich finden, sind Sie frei, daraus Schlussfolgerungen für das nächste Mal abzuleiten.

Vermutlich fällt Ihnen dann auch auf, dass Sie gar nicht immer ermutigend sein wollen. Müssen Sie auch nicht. Sie müssen es genauso wenig, wie jemand immer Klavier spielen muss, bloß weil sie es kann. Sie entscheiden frei, wann und wen Sie ermutigen wollen – und wen und wann nicht. Nur: Wenn Sie es wollen, sollten Sie es können. Wie Schönheit, so liegt auch Ermutigung im Auge des Betrachters: Nur was die Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch. Die Aussage «Ich habe sie/ihn ja ermutigt, aber sie/er hat es nicht angenommen» ist ein Widerspruch in sich: Wenn sie es nicht angenommen hat, dann war es keine Ermutigung, auch wenn es in edelster Absicht geschah. Ebenso wenig gilt das Argument: «Ich wollte ihn/sie überhaupt nicht entmutigen; sie/er hat meine Reaktion nur leider in den falschen Hals bekommen!» Kurz und trocken: Was entmutigend gewirkt hat, war eine Entmutigung, gleich ob dies in unserer (bewussten) Absicht lag oder nicht.

Nun liegt es nicht allein in unserer Hand, ob etwas ermutigend wirkt. Wenn Ermutigung scheitert, kann das auch an der Beziehung, am Zeitpunkt oder an den Vorerfahrungen des Adressaten liegen. Trotzdem machen Sie sich das Lernen leichter, wenn Sie auf das Alibi «Ich wollte ja, aber …» verzichten und akzeptieren, dass bei der Ermutigung das Resultat zählt und nicht die Absicht. Wenn Sie Ihr Agieren in dieser Weise reflektieren, gewinnen Sie einen neuen, erweiterten Blick auf Ihre sozialen Folgen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das bereits erste Veränderungen bewirken: Sie werden Wirkungen entdecken, die Sie nicht wirklich wollen und deshalb korrigieren, und Sie werden sich positiver Wirkungen bewusst werden und sie verstärken. Etwas mehr Mut erfordert es, das Feedback Ihrer Umgebung einzuholen. Das kann unangenehme Überraschungen bringen, weil es einen mit den blinden Flecken der eigenen Wahrnehmung konfrontiert – doch gerade deshalb ist es so nützlich, auch wenn es erst einmal schmerzt.

Ein «Klassiker» ist, dass dominante Persönlichkeiten, die sich rasch eine Meinung bilden und sie auch dezidiert äußern, die Rückmeldung bekommen, dass ihre schnellen und zuweilen harschen Reaktionen auf Vorschläge und Ideen mehr emotionalen Flurschaden anrichten als ihnen bewusst ist, zumal wenn sie den Adressaten hierarchisch übergeordnet sind. Im Grunde kann Ihnen kaum etwas Besseres passieren, als dass Sie auf diese Weise von Nebenwirkungen Ihres Handelns erfahren, die Sie bislang nicht im Blick hatten. Auch wenn Ihnen das im ersten Moment missfällt: Diese unerwünschten Wirkungen gehen ja nicht davon weg, dass Sie die Augen vor ihnen verschließen.

Indirekte und direkte Ermutigung

Wer lernen möchte, ermutigender zu werden, richtet seine Aufmerksamkeit fast automatisch darauf, was sie oder er sagen oder tun könnte, um anderen Mut zu machen. Das ist aber erst der zweite Schritt: Fast noch wichtiger – und zugleich das Fundament jeder direkten Ermutigung – ist das, was Theo Schoenaker als «indirekte Ermutigung» bezeichnet hat (Schoenaker, 1991) (vgl. Abbildung 1).

Indirekte Ermutigung besteht letztlich darin, ein Klima zu schaffen, in dem es allen Beteiligten leicht(er) fällt, etwas zu wagen und soziale Risiken einzugehen. Sie geht im Kern zurück auf Rudolf Dreikurs’ Begriff der «Familienatmosphäre» (1964), die das Verhalten und die soziale Entwicklung von Kindern mitbestimmt und die in ihrer Tendenz sowohl ermutigend als auch entmutigend sein kann. (Womit Dreikurs wiederum an Alfred Adlers «Familienluft» (1925) anknüpft.)

Indirekte Ermutigung gelingt am besten, wenn wir als Person eine Ausstrahlung entwickeln, die andere dazu einlädt, ihre Komfortzone zu verlassen, statt sie einzuschüchtern oder vorsichtig werden zu lassen. Spürbare, erlebbare Wertschätzung schafft das Vertrauen, vorbehaltlos akzeptiert zu sein und auch etwas wagen und Fehler machen zu dürfen. Das erzeugt eine Atmosphäre, die die Harvard-Professorin Amy Edmondson unter der Bezeichnung «psychological safety» bekannt gemacht hat.

An mangelnder psychologischer Sicherheit bzw. an einem wenig ermutigenden Klima liegt es oft, wenn das vielbeschworene «Empowerment» in der Praxis wieder einmal nicht greift: Es bringt wenig, die Mitarbeitenden zu «ermächtigen» (was immer das bedeutet) und sie zu eigenverantwortlichem Handeln aufzufordern, wenn die Atmosphäre eher entmutigend ist und sie das Gefühl haben, auf keinen Fall etwas falsch machen zu dürfen.

Wichtig ist: Indirekte Ermutigung ist keine Vorübung, bevor endlich die «richtige» Ermutigung an die Reihe kommt – sie ist das Herzstück der Ermutigung. Wenn jemand spürt, dass wir sie oder ihn schätzen, ihr etwas zutrauen und an ihre Fähigkeiten glauben, dann ist eine direkte Ermutigung oft gar nicht mehr notwendig. Denn in solch einem ermutigenden Grundklima fällt es den Betreffenden auch so schon leicht(er), mutigere Gedanken zu fassen und entsprechend zu handeln.

Das gilt erst recht in Gruppen: Wenn es gelingt, in einem Team ein ermutigendes Klima zu schaffen, dann denken, diskutieren und handeln alle Beteiligten, fast ohne es zu bemerken, von sich aus mutiger und ermutigen sich damit auch gegenseitig. Solche Teams erkennt man daran, dass dort sehr lebhaft und kontrovers diskutiert wird, aber mit hoher gegenseitiger Wertschätzung und im gemeinsamen Bestreben, die beste Lösung für die Aufgabe bzw. das Unternehmen zu finden. Direkte ermutigende Impulse sind dann kaum noch erforderlich oder können sich auf gezielte Interventionen beschränken, etwa um besonders zurückhaltende Teammitglieder aus der Reserve zu locken: «Möchten Sie Ihr Kopfwiegen einmal in Worte fassen?»

Von der persönlichen Weiterentwicklung zur Organisations-Entwicklung

Direkte Impulse sind zuweilen notwendig, wenn es um persönliche Weiterentwicklung geht. Also etwa dann, wenn man erreichen will, dass sich Mitarbeitende an Aufgaben heranwagen, um die sie bislang einen Bogen gemacht haben. Doch direkte Ermutigung entfaltet ihre volle Wirkung nur, wenn die Adressaten sich angenommen fühlen und eine positive, ermutigende Beziehung besteht. Wenn das der Fall ist, dann schadet es auch nichts, wenn die direkte Ermutigung nicht bloß aus zarten Signalen besteht, sondern aus einer nachdrücklichen Forderung. Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen. Ermutigung heißt, sich gegenseitig beim Wachstum zu unterstützen, also bei der Weiterentwicklung und Ausschöpfung der eigenen Fähigkeiten. Das kann und wird – und darf – auch das eine oder andere Mal gegen Widerstände geschehen.

In der erwähnten Bank zum Beispiel lernten die Vertriebsmanager, statt ihre Mitarbeitenden einfach unter Druck zu setzen, damit sie mehr Geschäft mit schwierigen Potenzialkund*innen machten, mit ihnen Gespräche über ihre Ängste und Unsicherheiten zu führen. Sie diskutierten dann etwa, was passieren könnte, wenn sie auf diese Kund*innen zugingen und ihnen Angebote machten, und was ihnen helfen würde, besser mit möglichen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Wenn die Mitarbeitenden sich besser gerüstet fühlten und ihre Sorgen reduziert waren, machten die Vorgesetzten deutlich: Sie erwarteten von den Mitarbeitenden keinen Verkaufsabschluss, sondern «nur» ein beherztes Gespräch. Die ausdrückliche Botschaft war dabei: Es dürfen – und es werden – auch Dinge schiefgehen. Wir befinden uns in einem Lernprozess, der Höhen und Tiefen durchlaufen wird. Erwartet wird, über den eigenen Schatten zu springen – der Erfolg ist nicht das geforderte Ziel, sondern die früher oder später unvermeidliche Folge.

«Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen, sondern sich beim Wachstum zu unterstützen.»

Die Kundengespräche wurden gemeinsam nachgearbeitet; wo sinnvoll, wurden Kund*innen zusätzliche Informationen nachgereicht oder ergänzende Angebote gemacht. Vor allem gingen die Mitarbeitenden innerlich immer besser gerüstet in die nächsten Gespräche mit diesen schwierigen Kund*innen.

Und die Erfolge kamen: Sie erwiesen sich tatsächlich als unausweichliche Folge eines mutigeren Vorgehens. Mutiger zu werden heißt letztlich, als Person wie als Organisation immer wieder die eigene Komfortzone zu verlassen und sich Herausforderungen zu stellen, an die man sich bislang nicht herangewagt hat. Das ist zuweilen anstrengend, aber es lohnt sich. Im Grunde gibt es kaum etwas Befriedigenderes als immer wieder zu erleben, was man alles hinbekommt, das man sich noch vor ein paar Jahren oder Wochen nicht zugetraut hätte.

Gerade im beruflichen Umfeld, wo es um Leistung und um Ergebnisse geht, ist es völlig legitim, nicht nur sich selbst zu fordern, sondern auch seine Umgebung: seine Mitarbeitenden, seine Kolleg*innen, aber durchaus auch seine Vorgesetzten und Kund*innen. Denn je mehr und je schneller sich alle Beteiligten weiterentwickeln, desto mehr wird eine mutige und ermutigende Kultur zu einem strategischen Wettbewerbsvorteil, der für Konkurrent*innen kaum aufzuholen ist.

 

Winfried Berner
Gründer und Inhaber von Die Umsetzungsberatung,
spezialisiert auf Change Management und Kulturveränderung


Die Magie des Konflikts

Ein Gespräch mit Reinhard Sprenger

Für den Management-Experten Dr. Reinhard K. Sprenger liegt im Konflikt die Lösung – auch für den Erfolg und die Zukunftsfähigkeit von Organisationen. Warum ist das so? Und worauf sollten Führungskräfte beim Streiten besonders achten?

ZOE: Herr Dr. Sprenger, worin liegt die Magie des Konfliktes und warum haben Sie ihr ein ganzes Buch gewidmet?

Sprenger: Die Magie des Konflikts besteht im oszillierenden Flimmern. Der Konflikt stößt ab und zieht an, verbindet und trennt, vitalisiert und paralysiert. Jeder weiß, dass ohne Konflikt keine Entwicklung möglich ist. Dennoch versucht ihn jeder zu vermeiden. Und wenn das nicht geht, ihn zu lösen. Was unwahrscheinlich ist. Nicht einmal wünschbar. Genau dieses Pulsieren ist aber wichtig für die Zukunft unserer Kinder, die in keiner Konsensgesellschaft mehr leben werden, sondern in einer Konfliktgesellschaft. Dafür brauchen wir einen anderen Konfliktbegriff.

ZOE: Worauf sollten Führungskräfte besonders achten, wenn sie Konflikte konstruktiv nutzen möchten?

Sprenger: Im Konflikt erfährt man eine Weltergänzung. Man kommt aus dem Mangel in die Fülle, aus der Unterbelichtung in das volle Bild. Man erfährt ja niemals mehr von einem Menschen, als wenn dieser für etwas in den Konflikt einsteigt. Umgekehrt auch: Wer nicht streitet, lernt sich selbst nicht kennen. Für Führungskräfte kommt hinzu, dass der Konflikt ihre Existenz legitimiert. Ohne Ziel- und Wertkonflikte braucht es keine Führung. So besehen sind Führungskräfte Konfliktparasiten.

ZOE: Welches sind Ihrer Erfahrung nach die größten Konfliktsünden, die Manager*innen immer wieder begehen?

Sprenger: Konfliktscheu. Sie wollen nicht verletzen und wollen nicht verletzt werden. Und aus der Furcht, zu weit zu gehen, gehen sie oft nicht weit genug. Wer aber Streit vermeidet, erntet noch lange nicht Frieden. Und es entsteht ein Pastellgemälde der Realität. Das genau ist die Idealvorstellung jener Menschen, die von einer multikulturellen, konflikt- und abwertungsfreien «one world» träumen. Wer so auf Konflikte schaut, dem fehlt es folgerichtig an Übung im vernünftigen Umgang. Eine verbreitete Konfliktsünde ist auch die Schweigespirale. Das ist die Tendenz, sich mit allgemeiner Gestimmtheit zu harmonisieren, obwohl man die Dinge vielleicht völlig anders sieht. Heute hat der Begriff der politischen Korrektheit Teile dieses Phänomens übernommen.

ZOE: Gibt es Ihres Erachtens nach kulturelle Eigenheiten, die im deutschsprachigen Raum dazu führen, dass wir Konflikt nicht immer konstruktiv nutzen?

Sprenger: Wir sind Entweder-Oder-Menschen. «Shades of Grey» ist bei uns ein pornografischer Roman, kein pragmatischer Zugang zur Welt. Sehr deutsch ist auch Harmoniesucht. Sie betont maschinenlogische Sprachbilder wie «gut geölt» und «reibungslos». Im deutschen Traditionskomplex wurzelt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Konkurrenzmechanismen einer liberalen Gesellschaft. Tief eingewurzelt in die kollektiven Tiefenströme ist die Erfahrung mit Napoleon, der mühelos durch die zersplitterten deutschen Territorialstaaten schnitt. Mit desaströsen Folgen, wenn man sich an Wilhelm II. in der Julikrise 1914 erinnert: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.»

ZOE: Welche Taktiken gibt es denn, um andere, die vielleicht konfliktavers oder übermäßig rechthaberisch sind, in einen produktiven Konflikt zu führen?

Sprenger: Ich bin kein großer Freund von Taktiken. Es kann nicht darum gehen, den anderen zu therapieren. Paradoxerweise kommt man ja am weitesten, wenn man bei sich selbst bleibt. Und da hilft es, wenn ich mir klar mache, dass sich meine Verhaltensweisen relational-zirkulär entwickeln. In dem einen Fall könnte es sein, dass meine Lösungsfixierung andere Menschen entmutigt, Konflikte ergebnisoffen anzusprechen. Oder meine Inszenierung von Alternativlosigkeit, wenn ohnehin klar ist, wer sich durchsetzen wird. Im anderen Fall könnte es sein, dass meine Ego-Grandiosität das Rechthabenwollen des anderen stimuliert. Nach dem Motto: Wenn du nicht so drücken würdest, müsste ich nicht so drücken.

ZOE: In Ihrem aktuellen Buch gibt es eine Sektion darüber, wann man nicht in einen Konflikt einsteigen sollte. Wie sieht das bei typischen konfliktgeladenen Situationen in einer Organisation aus?

Sprenger: «Pick your fights» sagt man in den USA. Denn es gibt nötige Konflikte und unnötige. Unnötig sind etwa die unendlichen Auseinandersetzungen, die täglich kurz aufflackern. Auch die Fehlertrüffelhunde unter den Chefs, die professionellen Nörgler, heimlichen Intriganten – die muss man ertragen. Das ist small stuff. Auch aussichtslosen Konflikten sollte man aus dem Weg gehen. Es sei denn, man will den Angriffsselbstmord genießen. Einsteigen sollte man hingegen bei allem, was für die Zukunftsfähigkeit einer Organisation relevant ist. Das sind insbesondere strukturelle und institutionelle Entscheidungen. Aber auch da ist der richtige Zeitpunkt wichtig. Es schadet nicht, sich in der fast verlernten Kunst des Zögerns zu üben. Und eine große Tribüne zu meiden. Vor allem aber hat keiner das Recht, alten Ärger zu präsentieren. Zornes-Sparbücher gehören in die Tonne.

ZOE: Wenn Sie eine kleine Konflikt-Typologie für die Führungspraxis entwickeln müssten, welche Leitunterscheidungen würden Sie dann treffen?

Sprenger: Unser Gespräch findet mitten in der Corona-Krise statt. Die macht den Unterschied zwischen einer Entscheidung und einer Wahl besonders sinnfällig. Eine Entscheidung ist fällig vor einer Milchglasscheibe, bei offenem Ausgang und unkalkulierbaren Konsequenzen. Im Unterschied zur Wahl, die sich fakten- oder wertbasiert zu einer Seite neigt. Führung zieht ihre Existenzberechtigung aus der dilemmatischen Situation der Entscheidung – wenn es keine Kriterien gibt oder ebenso gute Gründe für die eine Seite gibt wie für die andere. Häufig sind Führungskräfte jedoch nicht auf der Höhe der Komplexität, die zu bewältigen sie bezahlt werden. Dann ziehen sie Berater herbei, gegenwärtig Virologen. Die sammeln solange Daten, bis die Dinge eindeutig und konfliktfrei scheinen. Also nicht mehr entschieden werden müssen. Das entlastet. Der Preis dafür ist Verantwortungsdiffusion bis hin zur Delegitimierung der Führung.

 


Dr. Reinhard K. Sprenger — Biografie

Dr. Reinhard K. Sprenger studierte Philosophie, Psychologie, Geschichte, Sport und Betriebswirtschaft in Bochum und Berlin. Seine Bücher haben das Führungsverständnis vieler Manager*innen nachhaltig verändert. Seit 1990 arbeitet er als selbstständiger Unternehmensberater für viele internationale Konzerne und Dax-100-Unternehmen. Sprenger lebt in Winterthur und Santa Fe. Im März 2020 ist sein Buch «Magie des Konflikts: Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt» erschienen.


 

ZOE: Wir leben im Internetzeitalter. Wie unterscheidet sich die Handhabung von Konflikten im virtuellen Bereich eigentlich vom physischen und wo liegen spezifische Herausforderungen?

Sprenger: Die Leitunterscheidung «physisch/virtuell» ist selber der Konflikt. Das Virtuelle definiert ja das Unternehmen als Kooperationsarena völlig neu. Teilweise auch naiv und in Opposition zu unserem biologischen Gepäck. Vor allem im Mikro-Konflikt wird das deutlich. Ein wirklich produktives Konfliktgespräch ist virtuell nicht zu führen. Beispielhaft kann man das an E-Mails sehen. Wir kommunizieren durch sie nicht von Mensch zu Mensch, sondern über eine dazwischengeschaltete Maschine, die die Kommunikation formt. Aus Lockerheit wird in E-Mails schnell Distanz- und Respektlosigkeit. Und wir können die Reaktion des Empfängers nicht spüren. Deshalb die Regel: Alles Konflikthafte gehört nicht in eine E-Mail.

“Das Glück der Menschen hängt von Erwartungen ab, nicht von objektiven Umständen.”

ZOE: Sie betonen die Rolle von Erwartungen für die Konflikthandhabung. Wie kann man gutes Erwartungs-Management für den Konfliktkontext betreiben?

Sprenger: Das Glück der Menschen hängt von Erwartungen ab; nicht von objektiven Umständen. Wenn sie bekommen, was sie wollen, sind sie glücklich; wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, sind sie unglücklich. Die Krux: Egal was wir erreichen, wir wollen mehr. Perfektionsforderung wird dann zur Realitätsvermiesung. Deshalb modelliere ich den Konflikt als Erwartungsdifferenz. Zwei Menschen haben unterschiedliche Erwartungen, die beide berechtigt sind, aber nicht zueinander passen. Die eigene Erwartung sollten wir nicht als Selbstverständlichkeit etikettieren. Hilfreich ist es also, potenziell konfliktäre Erwartungen aussprechen und zu verhandeln. Werden Erwartungen enttäuscht, kann ich prüfen, ob ich an ihnen festhalten will. Man kann Erwartungen auch loslassen. Aller Ärger ist letztlich das zwanghafte Festhalten an Erwartungen.

ZOE: Warum ist eine systemische Perspektive auf Konflikte besonders hilfreich? Oder gibt es sonst Blickwinkel, die Ihnen noch erhellender erscheinen?

Sprenger: Ich brauche in meiner Praxis beide Pole – den Hitzepol des personenzentrischen Denkens und den Kältepol des Systemischen. Ich will beiden Seiten die Ehre geben, weil ich der Überzeugung bin, dass sie sich nicht ausschließen. Wenn ich allerdings priorisieren muss, beginne ich mit dem systemischen Ansatz, weil mir vieles im Unternehmen zu invasiv und therapeutisch-übergriffig ist. Erhellender erscheint mir die philosophische Perspektive, weil sie Distanz hält und uns ehemaligen Savannenwesen den Blick öffnet. Vor allem aber nicht droht.

“Ich darf niemandem so viel Macht über mich geben, dass ich meine Souveränität verliere.”

ZOE: Glauben Sie, dass die Beschäftigung mit Philosophie uns zu Konflikt-kompetenteren Menschen machen kann?

Sprenger: Unbedingt. Es ist die Erfahrung, dass es intellektuell immer gleich weit zum rettenden Ufer ist. Dass die Welt immer mehrdeutig ist und niemand einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat. Die ganze Fülle von Stimmen und Gegenstimmen führt einen heraus aus der Hölle der Alternativlosigkeit. Zum Beispiel das Paradox schuldloser Verschuldung bei Kierkegaard, Hegels Definition der Tragödie als Konflikt, in dem immer beide Parteien recht haben, Platons Kugelwesen. Dann erkennt man, dass Wirklichkeit gleitet, nicht sprödbrüchig feststeht, sondern stets ein wenig schaukelt, sich wendet und dreht.

ZOE: In Ihrem Buch prägen Sie den Begriff des Konfliktkünstlers. Welche Fähigkeiten muss dieser gerade als Führungskraft mitbringen bzw. kultivieren und ausbauen?

Sprenger: Wenn mein Geld auf dem Tisch läge, würde ich Führungskräfte intensiv und praxisnah mit Ambivalenzen konfrontieren. Oder besser noch: Eindeutigkeiten enttäuschen. Wenn das verstanden ist, kann das Verhalten folgen. Denn Widersprüche lassen sich leicht zu Fließgleichgewichten, Gegenseitigkeiten und Wechselwirksamkeiten verändern. So wie Türen, die mal offen, mal geschlossen sind. Dann kann man einen integrativen Blick entwickeln, Globales und Lokales zusammendenken, Bewahrung und Veränderung pendeln lassen. Dann versteht man das Unternehmen auch als kooperative Ordnung, in der verschiedene Rationalitäten gleichberechtig existieren. Nicht nur nebeneinander, auch nicht miteinander, sondern füreinander. Konflikt, so verstanden, ist das Integrationsvehikel überhaupt.

ZOE: In welchen Situationen fällt es Ihnen eigentlich persönlich schwer, den Konflikt als magischen Moment und Chance zu sehen?

Sprenger: In allen. Wegweiser gehen ja selten die Wege, die sie weisen. Ich habe, wie man so sagt, noch viel Luft nach oben. Jedenfalls konnte ich noch bei keinem Buch so viel über mich selbst lernen, wie bei diesem. Und ich musste ziemlich oft lachen.

ZOE: Vermutlich hat jeder von uns einen Konfliktbereich, in dem er oder sie an Souveränität verliert. Gibt es Verhaltensweisen, die uns helfen können, wieder die Contenance zu fassen?

Sprenger: Unzählige. Für mich die wichtigste: Selbstachtung geht immer vor Fremdachtung. Ich darf niemandem so viel Macht über mich geben, dass ich meine Souveränität verliere. Was mir übrigens bei meinen Kindern manchmal schwer fällt. Ich denke oft an Augustus, der im Zorn immer erst das Alphabet aufgesagt haben soll, bevor er reagierte. Er hat dem römischen Reich 40 Friedensjahre geschenkt. Vielleicht deshalb.

Das Gespräch führte ZOE-Redakteur Prof. Dr. Martin J. Eppler