Raus aus der Komfortzone

Sozialer Mut als Wettbewerbsvorteil

Wenn man mutige Organisationen möchte, sollte man zunächst bei sich selbst anfangen. Wie einem das gelingt und wie man Andere systematisch ermutigen kann, zeigt dieser Beitrag.

Mit der Forderung nach Ermutigung rennt man im Management offene Türen ein: Ja, Mut ist ganz wichtig, gerade in der heutigen Zeit! Von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften würde man sich wirklich mehr Mut wünschen – und von der Politik auch. Generell müssten die Deutschen mehr Mut zu Veränderungen aufbringen, statt ängstlich am Status quo zu kleben…

Man könnte das auch nennen: Plappernd am Kern der Sache vorbeischwätzen. Paradoxerweise macht es gerade diese voreilige Begeisterung schwierig, mit Sorgfalt und Tiefe über Mut zu reden.

Perfekt ins Bild passt da, dass die begeisterte Zustimmung absolut folgenlos bleibt: Wenn ihnen Mut tatsächlich so wichtig ist, weshalb entwickeln die Verantwortlichen dann eigentlich keine Strategien und Programme, um den so schmerzlich vermissten Mut zu fördern? Warum erforschen sie nicht die Gründe der Mutlosigkeit? Warum ignorieren sie mögliche Zusammenhänge mit der bestehenden Unternehmens- und Führungskultur?

Welche Art von Mut wollen wir?

Wer sich von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften mehr Mut wünscht, muss zunächst einmal klären, was genau er eigentlich erreichen will: Möchte er tatsächlich, dass seine Adressaten künftig Risiken eingehen, mit denen sie sich, andere und/oder die Firma in Gefahr bringen? Vermutlich nicht. Aber was ist dann das Ziel?

Mut ist zunächst einmal wertfrei. Einen Einbruch zu begehen oder seine ersten Karriereschritte als Trickbetrüger zu machen, erfordert auch Mut. Doch das sind schädliche, destruktive Formen von Mut, gegen andere Menschen und gegen die Gemeinschaft gerichtet. Solch anti-sozialer Mut ist weder anstrebenswert noch förderungswürdig. Was sowohl Teams und Organisationen als auch die Gesellschaft insgesamt brauchen, ist mehr pro-sozialer Mut, also einer, der zur eigenen Weiterentwicklung und/oder der Gemeinschaft beiträgt.

Das tut Mut vor allem in zwei Fällen: Zum einen dann, wenn sich Menschen persönlich entwickeln, indem sie ihre bisherigen Grenzen überwinden, sich an neue Herausforderungen wagen und dabei neue Erkenntnisse und Fähigkeiten erwerben; zum anderen dann, wenn sie ihren bestmöglichen Beitrag zu übergeordneten Zielen leisten. Also etwa, wenn sie beherzt und ohne Rücksicht auf soziale Erwünschtheit ihre Meinung vertreten, statt sich bedeckt zu halten oder anderen nach dem Mund zu reden. Es geht um Mut in Alltagssituationen, in denen keinerlei physische Gefahr droht. Eine schwierige Aufgabe zu übernehmen zum Beispiel oder sich gegen den Konsens im Team zu stellen, ist mit keiner körperlichen Bedrohung verbunden. Es birgt jedoch emotionale und soziale Risiken. Wer sich aus seiner Komfortzone wagt und sich an neuen Aufgaben versucht, riskiert zu scheitern. Wer ein heikles Thema anspricht, kann sich unbeliebt machen und verbale Prügel bekommen. Er läuft Gefahr, angegriffen zu werden, möglicherweise ganz alleine dazustehen, sich nicht durchsetzen zu können, im schlimmsten Fall ausgegrenzt zu werden. Wer unorthodoxe Vorschläge macht, kann abgebürstet oder ausgelacht werden.

Weiterentwicklung der Einzelnen und/oder der Gemeinschaft

Mut hat dann den größten Nutzen, wenn er die Einzelnen und/oder die Gemeinschaft weiterbringt – idealerweise beides. Beim Eingehen physischer Risiken ist das in aller Regel nicht der Fall: Unsere Herausforderungen liegen nur noch selten darin, Räuber oder wilde Tiere abzuwehren. Damit sich ein Team oder eine Firma weiterentwickelt, ist der Mut erforderlich, das warme Nest des allgemeinen Konsenses zu verlassen und Stellung zu beziehen. Irgendwer muss dafür das Wagnis eingehen, sich lächerlich oder unbeliebt zu machen. Dieser soziale Mut bringt uns auch als Individuen voran, hilft uns, unsere Potenziale auszuschöpfen und unsere Ängste zu reduzieren. Denn Angst wird man nicht los, indem man vor ihr wegläuft – Angst wird man los, indem man ihr entgegen geht.

Sozialer Mut hat das Potenzial zum strategischen Wettbewerbsvorteil – für den Einzelnen wie für Unternehmen und Non-Profit-Organisationen. Wer als Individuum mutig agiert, wird bei ansonsten gleichen Fähigkeiten mehr erreichen als jemand, der seiner Angst nachgibt, und sich damit auf die Dauer auch ein höheres Ansehen erwerben und bessere Karrierechancen haben.

Mutige Teams und mutige Unternehmen machen mehr aus ihren Ressourcen. Sie entfalten einen höheren «Wirkungsgrad», also letztlich eine höhere Produktivität. So erzielte ein Bankvertrieb einen wachsenden Pro-Kopf-Umsatz und -Ertrag, nachdem dort systematisch auf eine ermutigende Führungskultur hingearbeitet wurde. Erreicht wurde das hauptsächlich dadurch, dass die Mitarbeitenden ihr Geschäft mit «schwierigen», sprich besonders kritischen Kund*innen ausbauten, um die viele bisher einen Bogen gemacht hatten – genau wie die meisten Wettbewerber.

In ähnlicher Weise ist eine mutige Fertigung produktiver und erzeugt eine höhere Qualität, einfach weil Ineffizienzen wie Fehlerquellen früher beim Namen genannt und beseitigt werden. Das Band anzuhalten, wenn man entdeckt hat, dass ein Produkt fehlerhaft ist, erfordert die Übernahme von Verantwortung – risikoloser ist, die Augen zuzumachen und das fehlerhafte Teil vorbeilaufen zu lassen. Ebenso erfordert es Mut, einen fehleranfälligen Prozess zum Thema zu machen – oder seine Vorgesetzten darauf hinzuweisen, dass in ihrem Bereich nicht alles optimal läuft.

Selbst mutiger werden

Was kann man tun, um sein Team oder seine Firma in Richtung mehr Mut zu bewegen? Ein guter Anfang ist, mit sich selbst zu beginnen. Von heroischen Aufbrüchen ist dabei abzuraten: Der Ansatz «Ab morgen fürchte ich mich vor nichts und niemandem mehr» ist kaum durchzuhalten und kann zu Rückschlägen führen, von denen man sich nicht so leicht erholt. Erfolgversprechender ist, jeden Tag ein kleines bisschen mutiger zu werden. Das gelingt am besten in Situationen, die auf der Kippe stehen, bei denen man also schwankt, ob man etwas sagen soll oder nicht. Dort wäre es ein guter Anfang, im Zweifelsfall Stellung zu beziehen, statt den Mund zu halten.

Das ist nicht so spektakulär wie heroische Aufbrüche, hat aber eine längere Halbwertszeit. Und es summiert sich: Jeden Tag ein kleiner Schritt – oder jeden zweiten, weil man manchmal etwas Zeit braucht, um sich von der eigenen Tapferkeit zu erholen –, so kommt im Laufe der Zeit eine ordentliche Strecke zusammen.

Wichtig ist, dabei realistische Erwartungen zu haben. Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass eine mutige Intervention immer etwas Positives bewirkt. Noch unrealistischer wäre, auf allgemeine Begeisterung zu hoffen. Denn mutigeres Handeln wird in vielen Fällen wenigstens einigen der Beteiligten ungelegen kommen; entsprechend fängt man sich zuweilen harsche und abwehrende Reaktionen ein. Trotzdem ist es im Interesse der Sache zuweilen sinnvoll, der «Spielverderber» zu sein, der sich dem Harmonie-Konsens verweigert und auf weiterem Nachdenken beharrt.

Der richtige Maßstab für mutiges Handeln

Wer mutiges Handeln daran misst, ob es möglichst unmittelbar zum Erfolg und zu allgemeiner Zustimmung führt, entmutigt sich selbst. Realistischer ist, darauf zu setzen, dass mutiges Handeln die Situation zwar im Durchschnitt verbessert, aber nicht in jedem Einzelfall, und auch nicht immer sofort.

Der einzige sinnvolle und vor allem der einzig praktikable Maßstab ist, ob wir in einer gegebenen Situation unseren bestmöglichen Beitrag zur gemeinsamen Sache geleistet haben bzw. leisten. Denn ob es etwas bewirken wird und wie die anderen reagieren werden, können wir im Voraus nie sicher wissen. Deshalb bringt es auch nichts, darüber zu grübeln. Ebenso wenig sinnvoll ist es, das tatsächliche Ergebnis zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Denn erstens haben wir das nicht allein in der Hand, und zweitens ist das ein Expost-Maßstab, der uns im Vorfeld nichts hilft.

«I think our number one problem is that nobody wants to take responsibility for anything. But don’t quote me on that.»

Anonymer Manager

Deshalb ist hier der «Mut zur Unvollkommenheit» gefragt, den die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld (1881 – 1976) schon vor fast 100 Jahren gefordert hat: Oft müssen wir handeln, ohne im Voraus zu wissen, ob es richtig ist, wie die anderen reagieren werden und wozu es führen wird. Und dabei stehen wir jedes Mal vor der Wahl, entweder in der sicheren Deckung zu bleiben oder mutig zu sein und ins (soziale) Risiko zu gehen. Aus der Perspektive dessen, was die Individualpsychologie Gemeinschaftsgefühl nennt, ist das einzig relevante Kriterium für unser Handeln: Leisten wir nach unserer eigenen Überzeugung, also «nach bestem Wissen und Gewissen», unseren bestmöglichen Beitrag zu einer positiven Entwicklung? Das kann natürlich immer nur aus der Einschätzung der Situation heraus geschehen, die wir vor unserer Intervention hatten – nicht aus späteren Erkenntnissen und Einsichten oder dem Ergebnis, das schließlich eingetreten ist. Im Nachhinein ist man zuweilen klüger, doch es lähmt nur – sprich: es entmutigt –, sich davon beirren zu lassen. Sicher ist: In der Deckung zu bleiben, ist nur sehr selten der bestmögliche Beitrag.

Das hat eine wichtige Konsequenz: Wir sollten uns eine mutige, konstruktive Intervention auch dann als richtige Entscheidung anrechnen, wenn sie nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Wir haben dann nicht bewirkt, was wir bewirken wollten, aber wir haben «mutig und unvollkommen», wie Theo Schoenaker es formuliert hat, unser Bestes getan. Wenn wir unseren bestmöglichen Beitrag nicht als richtige Entscheidung verbuchen, was sollten wir dann als richtige Entscheidung verbuchen?

Andere systematisch(er) ermutigen

Doch so gut es ist, selbst mutiger zu werden, davon wird nicht automatisch auch unser Team mutiger und schon gar nicht die ganze Firma. Zusätzlich sollten wir lernen, unsere Umgebung systematisch zu ermutigen, und eine ermutigende Kultur aufbauen. Mit anderen Worten, wir sollten Ermutigung nicht nur zu einem zentralen Prinzip unseres eigenen Handelns machen, sondern zur Leitlinie der ganzen Organisation.

Aber wie ermutigt man seine soziale Umgebung? Wie kann man Ermutigung lernen? Der beste Einstieg ist, sich bewusst zu machen, dass Sie hier keineswegs bei null anfangen: Wir alle sind ständig dabei, unsere Umgebung teils zu ermutigen, teils zu entmutigen – nur, dass wir dies in aller Regel nicht bewusst und planmäßig tun, sondern inhaltsgetrieben, sprich, als spontane Reaktion darauf, was uns gefällt oder missfällt.

Wenn wir von einem Vorschlag spontan sehr angetan sind und dies verbal und/oder nonverbal zum Ausdruck bringen, hat das genauso seine Wirkung auf diejenige, die ihn gemacht hat, wie wenn wir eine Idee als Schwachsinn bezeichnen und brüsk vom Tisch wischen. Das Gleiche gilt, wenn wir bei einem Redebeitrag mehrfach den Kopf schütteln oder zustimmend nicken, wenn wir konzentriert zuhören oder uns parallel mit unserem Smartphone beschäftigen.

«Nur was Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch.»

Die Wirkung unserer Signale verstärkt sich ohne unser Zutun, wenn wir für die Adressaten wichtig sind, gleich ob aus beruflichen oder persönlichen Gründen. Hierarchische Über- bzw. Unterordnung spielt dabei eine größere Rolle als den meisten Führungskräften bewusst ist: Vor allem entmutigende Signale haben ungleich höheres Gewicht, wenn sie von Hierarchie-Höheren kommen. Persönliche Dominanz verstärkt den Effekt.

Die eigenen Gewohnheiten systematisch erforschen

Bevor Sie also darüber nachdenken, welche neuen Techniken und Methoden der Ermutigung Sie sich aneignen sollten, empfiehlt es sich, systematisch zu erforschen, wie und wodurch Sie bereits heute ermutigend bzw. entmutigend wirken. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Quellen: Erstens Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, zweitens das Feedback der Umgebung.

Selbstbeobachtung und Selbstreflexion sind der Anfang. Halten Sie am besten nach jedem Gespräch, bei längeren Gesprächen auch mal zwischendurch, kurz inne und fragen sich: Wie ermutigend oder entmutigend war oder bin ich eigentlich gerade? Welche Reaktionen meiner Gesprächspartner habe ich beobachtet – und sprechen die dafür, dass sie sich von mir ermutigt fühlen oder eher das Gegenteil? Dabei werden Sie vermutlich nicht alles sehen, aber es wird Ihnen schon einiges auffallen. Das schult Ihre Selbstwahrnehmung. Und wenn Sie die eine oder andere Ihrer Reaktionen im Nachhinein nicht ganz glücklich finden, sind Sie frei, daraus Schlussfolgerungen für das nächste Mal abzuleiten.

Vermutlich fällt Ihnen dann auch auf, dass Sie gar nicht immer ermutigend sein wollen. Müssen Sie auch nicht. Sie müssen es genauso wenig, wie jemand immer Klavier spielen muss, bloß weil sie es kann. Sie entscheiden frei, wann und wen Sie ermutigen wollen – und wen und wann nicht. Nur: Wenn Sie es wollen, sollten Sie es können. Wie Schönheit, so liegt auch Ermutigung im Auge des Betrachters: Nur was die Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch. Die Aussage «Ich habe sie/ihn ja ermutigt, aber sie/er hat es nicht angenommen» ist ein Widerspruch in sich: Wenn sie es nicht angenommen hat, dann war es keine Ermutigung, auch wenn es in edelster Absicht geschah. Ebenso wenig gilt das Argument: «Ich wollte ihn/sie überhaupt nicht entmutigen; sie/er hat meine Reaktion nur leider in den falschen Hals bekommen!» Kurz und trocken: Was entmutigend gewirkt hat, war eine Entmutigung, gleich ob dies in unserer (bewussten) Absicht lag oder nicht.

Nun liegt es nicht allein in unserer Hand, ob etwas ermutigend wirkt. Wenn Ermutigung scheitert, kann das auch an der Beziehung, am Zeitpunkt oder an den Vorerfahrungen des Adressaten liegen. Trotzdem machen Sie sich das Lernen leichter, wenn Sie auf das Alibi «Ich wollte ja, aber …» verzichten und akzeptieren, dass bei der Ermutigung das Resultat zählt und nicht die Absicht. Wenn Sie Ihr Agieren in dieser Weise reflektieren, gewinnen Sie einen neuen, erweiterten Blick auf Ihre sozialen Folgen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das bereits erste Veränderungen bewirken: Sie werden Wirkungen entdecken, die Sie nicht wirklich wollen und deshalb korrigieren, und Sie werden sich positiver Wirkungen bewusst werden und sie verstärken. Etwas mehr Mut erfordert es, das Feedback Ihrer Umgebung einzuholen. Das kann unangenehme Überraschungen bringen, weil es einen mit den blinden Flecken der eigenen Wahrnehmung konfrontiert – doch gerade deshalb ist es so nützlich, auch wenn es erst einmal schmerzt.

Ein «Klassiker» ist, dass dominante Persönlichkeiten, die sich rasch eine Meinung bilden und sie auch dezidiert äußern, die Rückmeldung bekommen, dass ihre schnellen und zuweilen harschen Reaktionen auf Vorschläge und Ideen mehr emotionalen Flurschaden anrichten als ihnen bewusst ist, zumal wenn sie den Adressaten hierarchisch übergeordnet sind. Im Grunde kann Ihnen kaum etwas Besseres passieren, als dass Sie auf diese Weise von Nebenwirkungen Ihres Handelns erfahren, die Sie bislang nicht im Blick hatten. Auch wenn Ihnen das im ersten Moment missfällt: Diese unerwünschten Wirkungen gehen ja nicht davon weg, dass Sie die Augen vor ihnen verschließen.

Indirekte und direkte Ermutigung

Wer lernen möchte, ermutigender zu werden, richtet seine Aufmerksamkeit fast automatisch darauf, was sie oder er sagen oder tun könnte, um anderen Mut zu machen. Das ist aber erst der zweite Schritt: Fast noch wichtiger – und zugleich das Fundament jeder direkten Ermutigung – ist das, was Theo Schoenaker als «indirekte Ermutigung» bezeichnet hat (Schoenaker, 1991) (vgl. Abbildung 1).

Indirekte Ermutigung besteht letztlich darin, ein Klima zu schaffen, in dem es allen Beteiligten leicht(er) fällt, etwas zu wagen und soziale Risiken einzugehen. Sie geht im Kern zurück auf Rudolf Dreikurs’ Begriff der «Familienatmosphäre» (1964), die das Verhalten und die soziale Entwicklung von Kindern mitbestimmt und die in ihrer Tendenz sowohl ermutigend als auch entmutigend sein kann. (Womit Dreikurs wiederum an Alfred Adlers «Familienluft» (1925) anknüpft.)

Indirekte Ermutigung gelingt am besten, wenn wir als Person eine Ausstrahlung entwickeln, die andere dazu einlädt, ihre Komfortzone zu verlassen, statt sie einzuschüchtern oder vorsichtig werden zu lassen. Spürbare, erlebbare Wertschätzung schafft das Vertrauen, vorbehaltlos akzeptiert zu sein und auch etwas wagen und Fehler machen zu dürfen. Das erzeugt eine Atmosphäre, die die Harvard-Professorin Amy Edmondson unter der Bezeichnung «psychological safety» bekannt gemacht hat.

An mangelnder psychologischer Sicherheit bzw. an einem wenig ermutigenden Klima liegt es oft, wenn das vielbeschworene «Empowerment» in der Praxis wieder einmal nicht greift: Es bringt wenig, die Mitarbeitenden zu «ermächtigen» (was immer das bedeutet) und sie zu eigenverantwortlichem Handeln aufzufordern, wenn die Atmosphäre eher entmutigend ist und sie das Gefühl haben, auf keinen Fall etwas falsch machen zu dürfen.

Wichtig ist: Indirekte Ermutigung ist keine Vorübung, bevor endlich die «richtige» Ermutigung an die Reihe kommt – sie ist das Herzstück der Ermutigung. Wenn jemand spürt, dass wir sie oder ihn schätzen, ihr etwas zutrauen und an ihre Fähigkeiten glauben, dann ist eine direkte Ermutigung oft gar nicht mehr notwendig. Denn in solch einem ermutigenden Grundklima fällt es den Betreffenden auch so schon leicht(er), mutigere Gedanken zu fassen und entsprechend zu handeln.

Das gilt erst recht in Gruppen: Wenn es gelingt, in einem Team ein ermutigendes Klima zu schaffen, dann denken, diskutieren und handeln alle Beteiligten, fast ohne es zu bemerken, von sich aus mutiger und ermutigen sich damit auch gegenseitig. Solche Teams erkennt man daran, dass dort sehr lebhaft und kontrovers diskutiert wird, aber mit hoher gegenseitiger Wertschätzung und im gemeinsamen Bestreben, die beste Lösung für die Aufgabe bzw. das Unternehmen zu finden. Direkte ermutigende Impulse sind dann kaum noch erforderlich oder können sich auf gezielte Interventionen beschränken, etwa um besonders zurückhaltende Teammitglieder aus der Reserve zu locken: «Möchten Sie Ihr Kopfwiegen einmal in Worte fassen?»

Von der persönlichen Weiterentwicklung zur Organisations-Entwicklung

Direkte Impulse sind zuweilen notwendig, wenn es um persönliche Weiterentwicklung geht. Also etwa dann, wenn man erreichen will, dass sich Mitarbeitende an Aufgaben heranwagen, um die sie bislang einen Bogen gemacht haben. Doch direkte Ermutigung entfaltet ihre volle Wirkung nur, wenn die Adressaten sich angenommen fühlen und eine positive, ermutigende Beziehung besteht. Wenn das der Fall ist, dann schadet es auch nichts, wenn die direkte Ermutigung nicht bloß aus zarten Signalen besteht, sondern aus einer nachdrücklichen Forderung. Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen. Ermutigung heißt, sich gegenseitig beim Wachstum zu unterstützen, also bei der Weiterentwicklung und Ausschöpfung der eigenen Fähigkeiten. Das kann und wird – und darf – auch das eine oder andere Mal gegen Widerstände geschehen.

In der erwähnten Bank zum Beispiel lernten die Vertriebsmanager, statt ihre Mitarbeitenden einfach unter Druck zu setzen, damit sie mehr Geschäft mit schwierigen Potenzialkund*innen machten, mit ihnen Gespräche über ihre Ängste und Unsicherheiten zu führen. Sie diskutierten dann etwa, was passieren könnte, wenn sie auf diese Kund*innen zugingen und ihnen Angebote machten, und was ihnen helfen würde, besser mit möglichen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Wenn die Mitarbeitenden sich besser gerüstet fühlten und ihre Sorgen reduziert waren, machten die Vorgesetzten deutlich: Sie erwarteten von den Mitarbeitenden keinen Verkaufsabschluss, sondern «nur» ein beherztes Gespräch. Die ausdrückliche Botschaft war dabei: Es dürfen – und es werden – auch Dinge schiefgehen. Wir befinden uns in einem Lernprozess, der Höhen und Tiefen durchlaufen wird. Erwartet wird, über den eigenen Schatten zu springen – der Erfolg ist nicht das geforderte Ziel, sondern die früher oder später unvermeidliche Folge.

«Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen, sondern sich beim Wachstum zu unterstützen.»

Die Kundengespräche wurden gemeinsam nachgearbeitet; wo sinnvoll, wurden Kund*innen zusätzliche Informationen nachgereicht oder ergänzende Angebote gemacht. Vor allem gingen die Mitarbeitenden innerlich immer besser gerüstet in die nächsten Gespräche mit diesen schwierigen Kund*innen.

Und die Erfolge kamen: Sie erwiesen sich tatsächlich als unausweichliche Folge eines mutigeren Vorgehens. Mutiger zu werden heißt letztlich, als Person wie als Organisation immer wieder die eigene Komfortzone zu verlassen und sich Herausforderungen zu stellen, an die man sich bislang nicht herangewagt hat. Das ist zuweilen anstrengend, aber es lohnt sich. Im Grunde gibt es kaum etwas Befriedigenderes als immer wieder zu erleben, was man alles hinbekommt, das man sich noch vor ein paar Jahren oder Wochen nicht zugetraut hätte.

Gerade im beruflichen Umfeld, wo es um Leistung und um Ergebnisse geht, ist es völlig legitim, nicht nur sich selbst zu fordern, sondern auch seine Umgebung: seine Mitarbeitenden, seine Kolleg*innen, aber durchaus auch seine Vorgesetzten und Kund*innen. Denn je mehr und je schneller sich alle Beteiligten weiterentwickeln, desto mehr wird eine mutige und ermutigende Kultur zu einem strategischen Wettbewerbsvorteil, der für Konkurrent*innen kaum aufzuholen ist.

 

Winfried Berner
Gründer und Inhaber von Die Umsetzungsberatung,
spezialisiert auf Change Management und Kulturveränderung


Aus Ausgabe Nr. 3/21: Wandelmut – Couragiertes Handeln im Change

Wir alle kennen Momente, in denen wir an der Schwelle stehen. Augenblicke, in denen wir uns mit Bedenken und unseren Ängsten konfrontiert fühlen, gleichzeitig aber auch den Drang haben, uns diesen zu widersetzen und über uns hinaus zu wachsen. Kurz gesagt: Mutig zu sein.

Doch was heißt das überhaupt? Mut wird meist etwas Positives und Aktivierendes zugewiesen. Etwas Heldenhaftes. Ist das wirklich so? Im Schwerpunkt dieser Ausgabe beschäftigten wir uns mit dem vielschichtigen Thema Mut aus ganz verschiedenen Perspektiven.